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FOCUS Business 02.05.2018 Link: focus.de Download PDF

Im Übermorgen-Land

Smartwatches steuern Maschinenparks, kollaborierende Roboter helfen in der Fabrikmontage: ein Besuch im Zukunftslabor des Fraunhofer-Instituts in Stuttgart zeigt, wie rasant die Digitalisierung unsere Arbeitswelt verändert.

Die Zukunft sieht aus wie ein Computerspiel: Da steht man plötzlich inmitten einer weitläuigen weißen Halle, eine dicke Virtual-Reality-Brille am Kopf, schwarze Plastikgreifer in den Händen – ohne Gefühl für Raum und Zeit. Vor den Augen läuft ein virtuelles Fließband mit bunten Plastikkugeln vorbei. In 3-D, als stünde es wirklich dort. Die Aufgabe: Blaue Bälle sollen in die blaue Tonne sortiert werden, gelbe Kugeln in die gelbe Tonne. Doch meistens greifen die Controller ins Leere. Und eh man sich’s versieht, ist die Zeit abgelaufen. Test nicht bestanden: „Sie müssten schon schneller werden, wenn Sie an diesem Montageband arbeiten wollten“, sagt Bernd Dworschak, Leiter des Fraunhofer-Teams für Kompetenzmanagement in Stuttgart, und grinst.

Seriöse Spiele mit VR-Brillen wie diese werden in Unternehmen Einzug halten, ist der Arbeitsforscher überzeugt, etwa um Mitarbeiter und Kunden zu schulen, ehe eine neue Produktionsanlage überhaupt steht. „Durch einen computeranimierten Aufbau kann das Zusammenspiel von Mensch und Maschine frühzeitig getestet und optimiert werden“, schwärmt Dworschak. „Lernen wird virtuell und individuell.“ Es ist eine Idee, die sich rechnen kann: Wenn ein Konzern wie BMW Tausende Beschäftigte für ein neues Montagesystem anlernen muss, würden durch den Einsatz von VR-Visualisierungen viel Aufwand, Zeit und Geld gespart – auch über Landesgrenzen hinweg.

Es sind die Arbeitsplätze der nächsten und übernächsten Generation, die die Tüftler der Fraunhofer-Institute für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) und für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) hier im „Future Work Lab“ am Rande des Campus der Uni Stuttgart entwickeln und erforschen – zum Teil in enger Zusammenarbeit mit großen Unternehmen oder kleinen Start-ups in ganz Deutschland. Der helle Industrieneubau mit seiner gefalteten, glitzernden Aluminiumfassade von Stararchitekt Gunter Henn gilt mittlerweile als eine der größten Forschungsfabriken der Welt.

Es geht um assistierte Montage in der Produktion, um kollaborative Roboter und Echtzeitdaten im Shoploor, um Mixed-Reality-Arbeitsplätze, Ergonomie und den Wandel des Fließbandarbeiters zum IT-Fachmann. Kurz: um die Vernetzung von Maschinen und Menschen, Lagerbeständen und Werkzeugen. 30 solcher Stationen gibt es bereits, 50 sollen es werden. Das Future Work Lab, Anfang 2017 von der damaligen Bundesforschungsministerin Johanna Wanka eröffnet, bündelt die Kompetenzen der Stuttgarter Fraunhofer-Institute rund um die Industrie 4.0 und versteht sich als Drehkreuz für die Entwicklung solcher Innovationen und den Austausch darüber. Moritz Hämmerle, Leiter für Produktionsmanagement im Fraunhofer IAO, steht an einer alufarbenen Werkbank voller Sensoren und Kameras. „Unser Ziel ist es“, sagt der 34-jährige Doktor der Ingenieurwissenschaften, „produzierenden Unternehmen und ihren Mitarbeitern eine Anlaufstelle für Fragen und Lösungen rund um die Digitalisierung industrieller Wertschöpfung zu bieten.“ Den Forscher mit der großen schwarzen Brille treibt der Wunsch, praxistaugliche digitale Lösungen rascher in die Produktionshallen zu bringen.

Und die ersten Fallbeispiele zeigen: So wie künstliche Intelligenz langsam in Büros einzieht und die Post erledigt, Schadenfälle in Versicherungen abwickelt oder den Einkauf für Supermarktketten regelt, so rücken intelligente Systeme ebenso in die Fabrikmontage ein und verwandeln starre Produktionsbänder in modulare Systeme. „Wir veranschaulichen, wie Digitalisierung die Arbeitswelt verändert“, sagt Wilhelm Bauer, Leiter des Fraunhofer IAO. „Wir wollen die Menschen für diese Transformationsprozesse begeistern, Ängste nehmen und zeigen: Ein intelligenter Roboter stellt keine Gefahr dar – man kann die Veränderungen nutzen.“ Immer wieder werden Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter ins Future Work Lab eingeladen, mehr als 4000 Gäste kamen bereits im ersten Jahr. Bauer, 61, gilt als Zukunftsexperte, das Land Baden-Württemberg und der Südwestrundfunk haben ihn zu einem von 60 „Übermorgen-Machern“ im Ländle gekürt. „Viele dieser digitalen Themen stehen noch am Anfang und sind Pilotprojekte“, betont Bauer. „Aber wir gehen davon aus, dass wir einen Wandel der Arbeitswelt in großem Stil erleben werden.“ Technik werde nicht nur intelligenter, sondern auch kognitiv: Sie kann Zusammenhänge erkennen und verarbeiten. Allgemein gilt dabei: Je formatierter und standardisierter ein Arbeitsvorgang, umso besser lässt er sich automatisieren. Je komplizierter ein Prozess und je mehr Kreativität er fordert, umso schwieriger wird es. Bauer: „Das Einfache wird ersetzt, das Komplexere bleibt.“ Dass all das keine Science-Fiction, sondern schon Realität ist, zeigt das App-Projekt „KapalexCy“ zur lexiblen Personalsteuerung: Sucht etwa ein Arbeitgeber für einen überraschend eingegangenen Großauftrag kurzfristig Mitarbeiter, schreibt der Teamleiter die dafür qualiizierten Kollegen über die App per Handy an. Diese können mit einem Klick annehmen oder ablehnen. Auch die jüngste Einigung der Metaller auf eine lexible 28-Stunden-Woche weist in diese Richtung. Die App Vote2Work, vom Fraunhofer IAO miterdacht und vom Start-up MVCon aus Rostock weiterentwickelt, sei bereits bei ersten Unternehmen wie dem Automobilzulieferer BorgWarner im Einsatz. „Smartphone schlägt Stechuhr“, bringt es Moritz Hämmerle auf den Punkt. „Entscheidend ist, dass Mitarbeiter auch Nein sagen können.“ Anwendungen für die Digitalisierung in der Fabrik werden inzwischen viele getestet: So muss ein Maschinenbediener künftig nicht mehr ständig neben einer Anlage stehen, sondern kann per Kamera, Tablet oder Smartwatch eine ganze Fabrikhalle in Gang halten. Die Maschinen können sogar vorzeitig melden, wenn sie in Kürze ein Problem bekommen, weil zum Beispiel Material fehlt. Instandhalter stimmen sich dann in Echtzeit per Knopfdruck am Handgelenk über die Wartungsaufträge ab. Gespickt mit solcher Technik ist eine Werkbank für assistierte Montage im Future Work Lab: WLAN, X-Box und Ultraschall, Handscanner, Kamera und Beamer sind an einem Gerüst über dem Arbeitsplatz montiert und führen den Fabrikarbeiter durch seine Aufgabe. Die nächsten Arbeitsschritte werden auf der Montagetischplatte als Foto oder Filmclip eingeblendet. Kleine Lämpchen markieren die benötigten Einzelteile in ihren Kisten, ein Lichtpunkt zeigt die Stelle, an die eine Schraube gehört. Vorteil dieses Systems: mehr Sicherheit, mehr Qualität – und mehr Vielfalt bei der Arbeit. „Statt vieler kleinteiliger, monotoner Arbeitsschritte kann ein Mitarbeiter künftig für komplexe Komponenten zuständig sein“, sagt Hämmerle. „So wie beispielsweise ein Werker bei AMG einen ganzen Motor baut.“ Hinzu kommt die penible Dokumentation: Daten bis hin zum Drehmoment des Akku-Schraubers werden für jedes Bauteil registriert – bei der Wartung von Flugzeugen und in der Autoindustrie lebenswichtige Informationen.

Automatisiert wird auch die Kommissionierung: Materialien, Werkzeuge und komplette Arbeitstische können selbstständig von vernetzten, autonomen Transportrobotern zum Mitarbeiter gefahren werden – zum Beispiel von „Banana Joe“. Das gelbe Gefährt mit Namensschild muss nur noch seinen Respekt vor menschlichen Beinen verlieren, damit es nicht immer stehen bleibt, sobald jemand in seine Nähe kommt. Immerhin erkennen die Systeme schon, was bei einem laufenden Arbeitsschritt als Nächstes benötigt wird. Intelligente, datenbankgestützte Bildverarbeitungsprogramme wie der „Schlaue Klaus“, die Erindung eines Start-ups aus Karlsruhe, sind in der Lage, unterschiedlichste Artikel in Sekundenbruchteilen abzugleichen und Facharbeitern mit den entsprechenden Informationen zu assistieren.

Werden „Banana Joe“ und der „Schlaue Klaus“ irgendwann schlauer sein als die Facharbeiter – und diese ablösen? „Natürlich gibt es deutliche Veränderungen von Berufsproilen, wie die Wandlung des Mechanikers zum Mechatroniker“, sagt Forscher Bauer. Aber dafür entstünden neue Jobs: „Die Transformationen verschieben den Bedarf an Qualiikationen.“ Nicht umsonst sei der Markt von Software-Entwicklern seit Jahren leer gefegt. Bei vielen Anwendungen gebe eine Software zudem nur Empfehlungen ab – der Mensch entscheide weiterhin auf Basis seiner Erfahrung. Solche Umwälzungen, betont Bauer, hätten die Menschen Ein 2,50 Meter großer Roboter unterstützt Arbeiter an der Werkbank seit Beginn der industriellen Massenproduktion vor 150 Jahren häuig erlebt. Die Angst, dass keine Arbeit bleibt, habe sich indessen nie bestätigt: „Ich bin überzeugt, dass uns die Arbeit nicht ausgeht“, sagt Bauer und steht damit nicht allein. Laut einer neuen Schätzung des Weltwirtschaftsforums werden zwei Drittel aller Kinder, die derzeit in die Schule kommen, Jobs haben, die heute noch nicht existieren. Realistischer ist für Bauer der Trend zu kürzerer und lexiblerer Arbeitszeit und zu mehr Freizeit: „Die einen werden mehr arbeiten wollen und können, die anderen weniger.“ Auch könne Arbeit zunehmend von zu Hause erledigt werden, erklärt Bauer, zugleich Technologiebeauftragter des Landes Baden-Württemberg. Ein Mann wie er vertraut auf die Zukunft. „Die Menschen werden sich immer wieder neue Produkte, Dienstleistungen und Wertschöpfungssysteme ausdenken – so wie seit Jahrhunderten.“
Manche Innovationen sind ohnehin eher dazu angetan, die Menschen zu entlasten und die Lücke des Fachkräftemangels zu schließen. So wie der orange Riese mitten im Future Work Lab: ein etwa 2,50 Meter hoher, kräftiger Großroboter der Kuka AG, dem man lieber aus dem Weg geht, wenn er sich dreht. Doch schon in naher Zukunft sollen Industriearbeiter mit solch schweren Stahlkolossen zusammenarbeiten, die jetzt noch hinter festen Schutzzäunen stehen – zur Sicherheit. Kameras und Lasertechnik überwachen und stoppen die Anlage bei einer falschen Bewegung. „Der Mensch wird von schwerer körperlicher Arbeit entlastet und liefert höhere Qualität“, erklärt Moritz Hämmerle, Kopf der Fraunhofer-Innovationsforscher, die Vision.
Gesteuert und programmiert werden die Industrieroboter zunehmend durch intuitiv verständliche Apps per Drag-and-drop. Sie sind selbst für Werker ohne IT-Studium einfach zu bedienen. Auch die Software selbst dürfte künftig immer leichter zu gestalten sein. „Produktions- und Wissensarbeiter wachsen weiter zusammen“, beschreibt es Hämmerle. Er erwartet zugleich einen wahren Bildungsboom: „Wir brauchen auf allen Ebenen eine neue Qualiizierungsoffensive“, sagt er. Das Fehlen von Kompetenzen wirke heute schon wachstumsbeschränkend in Deutschland.

Körperliche Unterstützung versprechen sich die Experten auch von den Exo-Skeletten: lexiblen schwarzen Gestellen, die Werker oder Plegekräfte wie ein zweites Skelett außen am Körper tragen. Die künstlichen Gliedmaßen und Muskeln unterstützen die Bewegungen eines Arbeiters mittels kleiner Servomotoren und verleihen ihm so zusätzliche Kraft: eine Art Superhelden-Anzug fürs Fließband. BMW setzt Exo-Skelette bereits in seinem amerikanischen Werk Spartanburg ein, um Werker bei Überkopf-Montagen zu entlasten. In Deutschland laufen erste Tests an Flughäfen und bei einigen großen Autobauern. „Ein serienmäßiger Einsatz der Exo-Skelette ist aber noch Zukunftsmusik“, betont Hämmerle. „Noch sind die meisten Modelle zu schwer, zu unhandlich, und die Akku-Leistung reicht nur kurze Zeit.“

Gewerkschaften beklagen, dass durch die sogenannten Fähigkeitsverstärker ungesunde Tätigkeiten fortgeschrieben werden, statt sie abzuschaffen. Doch der Nutzen wäre enorm: Muskel-Skelett-Erkrankungen verursachen laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin fast ein Viertel aller Arbeitsunfähigkeitstage – und zehn Milliarden Euro Produktionsausfall im Jahr.

Weiter gediehen ist der Einsatz von Augmented-Reality-Brillen, mit denen Informationen ins Sichtfeld eingespielt werden wie Pokémons in der legendären Pokémon-Go-App. In der Logistik und Lagerhaltung sollen Zeit und Kosten gespart werden, wenn Mitarbeiter nicht mehr mit einer Papier-Packliste am Regal nach Waren suchen, sondern von der „klugen Brille“ durch die Gänge geführt werden. Daten werden automatisch ans Lager-Management-System zurückgesendet. In der Autoindustrie wie im Leipziger Porsche-Werk werden in diesem Jahr Augmented-Reality-Brillen eingeführt. Ihr Vorteil: Bei der Qualitätsprüfung der Luxusautos macht die Optik selbst minimale Abweichungen eines Motors oder Kotlügels vom digitalen Ursprungsplan sichtbar.

Am anderen Ende des Uni-Campus, im zweiten Stock des Fraunhofer-Zentrums für Virtuelles Engineering, stehen die Wissenschaftler Michael Hertwig und Nikolas Zimmermann an einem großen Touch-Tisch zusammen, dessen Oberläche aus einem einzigen riesigen Monitor besteht. Darauf wird gerade ein zweidimensionaler Plan für eine Fabrikhalle mit mehreren Maschinen eingeblendet, während an der Wand ein weiteres Display die Fabrik in 3-D zeigt. Mit einem Fingertippen nimmt Ingenieur Zimmermann Änderungen vor, die sofort in allen Dimensionen sichtbar werden. An der Entwicklung solcher Systeme haben er und andere Fraunhofer-Experten für digitales Engineering mitgearbeitet. Mittlerweile brüten die Forscher schon wieder über anderen Fragen: über Crowd-Engineering-Plattformen für Robotik zum Beispiel, auf denen mehrere Entwickler und Kunden via Cloud gemeinsam an neuen Produkten tüfteln könnten. „Altes Silo-Denken bremst den digitalen Wandel“, sagt Hertwig. „Zukünftige Ingenieure gehen kollaborativer an Themen heran.“ Dank der Crowd könnten neue und bessere Lösungen entstehen. Die Freelancer und digitalen Nomaden unter den Entwicklern könnten ihre Ideen über die Cloud einbringen, wann und wo sie wollen.

Klar ist: Die Digitalisierung führt zu einer Flexibilisierung der Arbeitswelt – und zu einer Flexibilisierung der Produkte bis hin zu Einzelproduktionen. So wie heute jeder Neuwagen im Autohaus koniguriert werden kann, werden künftig immer mehr Waren nach Kundenwünschen produziert. In der Zukunftsvision von „Übermorgen-Macher“ Wilhelm Bauer könnte die schöne neue Warenwelt sogar noch ganz anders funktionieren: mit kleinen 3-D-Druckereien in jedem Stadtteil etwa, in denen sich Kunden ihre online konigurierten Anschaffungen ausdrucken lassen.