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Porsche Consulting – Das Magazin 10/2019 Download PDF

Mit der Straßenbahn in die Zukunft

In den Metropolen der Welt wird an einer neuen Mobilität gearbeitet: flexibel, vernetzt und auf Abruf.

Seine Finger fliegen über die Oberfläche des Tablets. Ulf Middelberg zeigt einen Plan mit blauen Straßen, weißen Autos, Bahnen, Fahrrädern und einem dicken gelben Pfeil Richtung Zukunft: die Innovationslandkarte der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB). Das städtische Nahverkehrsunternehmen beförderte im Jahr 2018 156 Millionen Fahrgäste – und verzeichnete damit einen Zuwachs von 18 Millionen innerhalb von fünf Jahren. Middelberg ist Geschäftsführer der LVB und seine Innovationsgrafik macht deutlich, wo er mit dem Unternehmen zukünftig hin will: Die LVB soll mehr als ein gut geölter Bus-und-Bahn-Betrieb sein. Sie soll sich zu einem flexiblen, vernetzten Mobilitäts-Dienstleister für alle Verkehrsströme in Deutschlands Großstadt mit den höchsten Wachstumsraten wandeln – inklusive Carsharing, Leihrädern, Shuttlediensten, Taxis und autonomen Transportsystemen. Kurzum: Mobility as a Service (MaaS).

Erstes Flaggschiff der strategischen Ausrichtung ist die App „Leipzig mobil“. Sie erlaubt neben Ticketkauf und Fahrplanauskunft auch den Zugriff auf das Fahrradverleihsystem Nextbike, einen regionalen Carsharing Anbieter sowie Taxis. Dazu ermöglicht die App direkte Vergleiche der Verkehrsmittel und Routen. Am Monatsende bekommt der Kunde eine Rechnung für alle Fahrten. Mit diesem öffentlichen Angebot, sich frei durch die Stadt zu bewegen, sei die LVB eines der innovativsten kommunalen Unternehmen in Deutschland.

„Vor allem jüngere Leute wollen sich heute weder an ein Auto noch an ein Abo binden“, sagt Middelberg. „Den wachsenden Trend zur Sharing Economy sehen wir als wichtige strategische Aufgabe für uns.“ Das Ziel: mehrgleisige Mobilitätslösungen, die sich zwar um das Rückgrat Bus und Straßenbahn ranken – aber weit darüber hinausgehen und gut vernetzt sind. Flexible Kunden bräuchten für eine schnelle Fortbewegung Informationen in Echtzeit. Und Angebote abseits von starren Fahrplänen.

Die elektronische Abrechnung soll die Fahrgäste von komplexen Tarifzonen und teuren Einzeltickets befreien. Künftig, so die Vision, erkenne eine SmartphoneApp oder Chipkarte beim Ein- und Aussteigen, wo man gefahren ist, und berechne anschließend den optimalen Preis. „Wir wollen die Nutzung vom Bezahlen entkoppeln“, sagt Middelberg. Damit erhöhe man die Bequemlichkeit für den Kunden und die Wirtschaftlichkeit für das Unternehmen. Aber nicht nur das: Anhand der Bewegungsdaten lernt der Mobilitätsanbieter seine Kundenströme besser kennen und kann sein Angebot weiter optimieren.

Smart Ticketing ist in den Metropolen der Welt auf dem Vormarsch. Im Großraum London können seit 2014 neben der Oyster Card auch Kreditkarten kontaktlos für Pay-as-you-go genutzt werden. Aus Helsinki kommt die „Whim“-App von MaaS Global zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Räder, Taxen und Leihwagen, die zudem in Birmingham und Antwerpen im Einsatz ist. Auch Hongkong mit seiner „Octopus Card“, New York mit der „OMNY“ und andere internationale Metropolen verfolgen Strategien für einheitliche und kontaktlose Bezahlverfahren per Smartphone, Travelcard oder Kreditkarte.

In Leipzig ist die Ausgangslage für neue Lösungen ideal: Die 600.000 Einwohner Stadt verfügt über das zweitgrößte Straßenbahnnetz in Deutschland nach Berlin. Die Bevölkerung ist binnen zehn Jahren um 100.000 Einwohner gewachsen, die jährlichen Fahrgastzahlen sind um zweistellige Millionenbeträge gestiegen, Fahrzeugflotten und Fahrerteams werden vergrößert. Bis 2030 verfolgt die Stadt mit einem nachhaltigen Verkehrskonzept ehrgeizige Ziele: 23 Prozent aller Wege sollen mit Bahnen und Bussen zurückgelegt werden, zurzeit sind es 18 Prozent. Der PKWAnteil soll von 40 auf 30 Prozent sinken. Damit steige, sagt Middelberg, die Attraktivität der Innenstadt als Einkaufs, Genussund Erlebnisort: ein Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Onlineshopping. Politik gegen Autos sei dies keineswegs, im Gegenteil: „Damit das Autofahren weiter Spaß macht, brauchen wir funktionsfähige Städte. Ein guter Nahverkehr ist Teil der Lösung.“

In Kooperation mit den LVB entwickeln derzeit in einer „Mobilitätsfabrik“ IT-Experten und Wissenschaftler der Max-Planck-Gesellschaft ein dynamisches Routing, das bessere Anbindungen und Verkehrsschnittstellen ermöglicht. Statt auf neue Schienen setzen die LVB vor allem auf digitale Lösungen, mit denen etwa in Randlagen Shuttle-Dienste organisiert werden. Helfen sollen künftig auch autonom fahrende Fahrzeuge: Mit einem Konsortium von Firmen und Experten entwickelt Leipzig bis 2021 einen Elektrobus für bis zu 16 Fahrgäste, der autonom auf öffentlichen Straßen fahren soll – bis zu 70 Kilometer pro Stunde schnell, sowohl im Linienverkehr als auch auf Anforderung per App. Die Linie soll vor allem die großen Arbeitgeber am Stadtrand wie die Automobilwerke von Porsche und BMW oder Europas größtes Logistikdrehkreuz von DHL Express besser anbinden.

Daneben laufen Projekte für die innovative Tram. Ampeln werden digital mit dem Leitsystem gekoppelt, sodass „grüne Wellen“ für Straßenbahnen möglich sind. An allen Haltestellen in der Innenstadt wurde freies WLAN eingerichtet, das jetzt weiter in die Stadtviertel wächst. Alle 1.200 Fahrer wurden mit Tablets ausgestattet, um ihnen schnellen Zugang zu Dienstplänen, aktuellen Verkehrsinformationen sowie digitale Schlüssel für Busse zu verschaffen. In einem Projekt mit DHL wurden zudem eine Plattform und Fahrzeuge für neue Fahrgemeinschaften der Mitarbeiter eingerichtet sowie ein Jobticket gleich mit eingebunden. „Jeder Passagier hat ein individuelles Mobilitätsbedürfnis. Mit smarten Diensten kann der Nahverkehr darauf eingehen“, so Middelberg.

Porsche Consulting unterstützt die LVB bei ihrem Wandel zum Mobilitätsdienstleister. Hinter der Transformation steht auch eine unternehmerische Strategie: Ein Rundum-Dienstleister kann an neuen Geschäftsmodellen teilhaben und Spielregeln des Wettbewerbs mitbestimmen – statt privaten Anbietern das Feld allein zu überlassen. „Wir wollen“, sagt Middelberg, „die Digitalisierungsrendite mit einstreichen.“