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expedition 2025 05/2019 Link: expedition2025

Gamified Industry

Sie sind schnell und bestens vernetzt, funktionieren intuitiv und sehen super aus: Computerspiele sind der Betriebssoftware in Verwaltungen und Industrien oft eine Generation weit voraus – noch. Denn mittlerweile treiben Game-Entwickler die digitalen Technologien auch in spielfremden Branchen voran. Ihre Ideen erobern die Produktion und Mobilität von morgen.

Level 1: Aufbau im Allgäu

Der Einstieg ins Spielfeld der Industrie liegt im Süden der Republik: In Kempten im Allgäu, kurz vorm Dreiländereck zu Österreich und der Schweiz. Eine Kleinstadt mit 70.000 Einwohnern, Zwiebeltürmen und Fußgängerzone. Mitten im Ort steht der funktionale Campus der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten: die wohl größte Nachwuchsschmiede für Computerspiele in Deutschland mit rund 400 Studierenden für Games-Engineering. Die wachsenden Studiengänge sind dabei weit mehr als nur die Spielecke für Computerfreaks. Die Gamesbranche ist noch vor Film und Musik zur bedeutendsten Infotainment-Branche mit Milliardenumsätzen herangewachsen. Allein fast jeder zweite Deutsche zockt bereits am Handy oder Computer. Games sind damit ein stilbildendes Massenprodukt geworden.

Und nicht nur das. Die innovativen, leistungsstarken Technologien aus den Gamingstudios haben sich mittlerweile auch in anderen Arbeitsbereichen als herausragend herumgesprochen – denn sie sind oft schneller, interaktiver und günstiger als andere. Etablierte Branchen wie die Autoindustrie, die Logistik oder die Luftfahrt setzen inzwischen auf High-End-Lösungen aus der Spielewelt: für realitätsgetreue Kollisionsberechnungen etwa, für hochwertige Visualisierungen und Einblendungen in Head-Up-Displays, für 3D-Engineering, virtuelle Fabrikplanungen und nutzerfreundliche Mensch-Maschine-Schnittstellen.

Professor Bernd Dreier ist einer der Treiber und Begleiter der neuen technologischen Trends. Im dritten Stock seiner Hochschule hat er ein Computerlabor mit sechseckigen Stehtischen und großen Bildschirmen eingerichtet, um seine Studenten agil betreuen zu können. Dreier sagt: „Die Gamesbranche ist überragend in hochwertiger, realistischer und echtzeitfähiger 3D-Visualisierung – seien es Physik- und Fahrsimulationen oder andere Vorgänge wie Kollisionsberechnungen.“ Auch in der Erfassung und semantischen Analyse dreidimensionaler geometrischer Strukturen, die etwa beim autonomen Fahren benötigt werden, sind die Gamer vorn. „Das autonome Fahrzeug benötigt eine Wahrnehmung seiner Umgebung und muss erkennen können, welche Objekte sich in seiner Nähe befinden, welche Gefahren sie bergen oder welche Botschaften sie senden“, sagt Dreier. „Einen Baum von einem Menschen oder einem Verkehrszeichen zu unterscheiden – in der Analyse und Visualisierung von 3D-Daten hat die Gamesbranche die allermeiste Erfahrung.“

Die Gründe für die Poleposition der Spiele liegen in ihrer Geschichte: Games haben die Technologien zwar nicht unbedingt erfunden, aber sie haben sie praxis- und massenmarkttauglich gemacht. Denn die digitale Spielbranche musste seit ihrer Entstehung Angebote mit einer großen Performance entwickeln, die für die Konsumenten simpel und damit massentauglich sind. Durch die große Verbreitung in den Wohnzimmern wurden sie zudem schnell preisgünstig – ein echter Vorteil für den Einsatz in der Industrie. Heute sorgen so genannte Game-Engines für leichte Verfügbarkeit. Die Software-Bibliotheken erlauben es, Videos, Grafiken oder Physikelemente mit weniger Programmierarbeit, weniger Komplikationen und weniger Zeitaufwand zu produzieren. „Solche Engines werden inzwischen von vielen Unternehmen genutzt – etwa zur Visualisierung eines Fahrzeugs oder für Visualisierungen im Fahrzeug selbst“, sagt Dreier.

Die Hochschule Kempten sieht sich dabei als Treffpunkt, an dem sich die fremden Welten von Industrie und Gamestudios begegnen können – damit sie nicht länger aneinander vorbeiziehen wie Schiffe im Nebel. „Noch gibt es Berührungsängste“, sagt der Forscher. In der Regel sei die Industrie eher bestrebt, Knowhow im eigenen Unternehmen aufzubauen. Daher erhält die Hochschule auch häufig Anfragen nach Absolventen mit Game-Engineering-Knowhow. Doch bei Gamestudios stößt dieser Trend nicht auf Begeisterung. Sie klagen schon darüber, dass ihnen spielfremde Arbeitgeber gute Leute mit lukrativen Angeboten abwerben. „Games haben einen Imagewandel durchgemacht“, sagt Dreier. „Sie kommen weg vom alten Schmuddel-Image für Nerds mit hohem Suchtpotential – und werden als allgemeines Kulturgut anerkannt.“

Level 2: Die wollen nur spielen

Statt das digitale Rad neu zu erfinden, greifen mittlerweile immer mehr Unternehmen auf vorhandene, aufwendige Softwarelösungen aus dem Gamesbereich zu. hat sich Automobilzulieferer Bosch zum Beispiel hat sich für ein Projekt mit Mackevision aus Stuttgart zusammengetan, ein Weltmarktführer für computergenerierte 3D-Visualisierungen, Animationen und visuelle Effekte in High-End-Qualität. Mackevision ist unter anderem für seine Mitarbeit an der Fantasy-Serie „Game of Thrones“ ausgezeichnet worden. Gemeinsam mit Bosch entwickelt das Medienunternehmen nun eine „Virtual Validation Platform“, mit der Sensoren für das automatisierte Fahren virtuell abgeprüft werden können. Ihre Basis: Eine Game-Engine. Der Sinn der Übung: Zeit, Kosten und weitere Ressourcen schonen.

Bisher müssen Sensorgruppen für automatisierte Fahrzeuge aufwendig über abertausende Straßenkilometer in der realen Umgebung getestet werden. „Virtuell würde dieser enorme Aufwand entfallen“, erklärt Kian Saemian, Vice President Future Technologies bei Mackevision und Initiator des Projekts. „Daher wollen wir jetzt alle Sensorgruppen mit der Plattform virtuell testen.“ Auch kritische Situationen durch das Wetter oder durch unvorhergesehene Verkehrsteilnehmer könnten in tausendfachen Variationen getestet werden. Boschs starkes Interesse an dem Projekt wertet Saemian als neue Offenheit, beim Engineering auf erprobte Technologien aus der Spieleindustrie zu setzen.

Doch es geht nicht nur ums Fahren – sondern auch ums Fliegen. ATCSim in Kaufbeuren, ein mittelständisches, international tätiges Softwareunternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten, entwickelt Tower- und Radar-Simulationssoftware, die weltweit zu Ausbildungs-, Test- und Forschungszwecken eingesetzt wird. Die komplexen Simulationen und Simulatoren dienen dem Training von Fluglotsen bei internationalen Flugsicherungs-Organisationen und ähneln Videospielen – nur sind sie absolut realistisch. Denn Fluglotsen werden spezifisch für jeden Flughafen, an dem sie eingesetzt werden, ausgebildet: mit einer vollständigen 3D-Visualisierung der jeweiligen Flughafenumgebung und der Fahr- und Flugzeuge. Die Grafiker von ATCSim, ein Tochterunternehmen der amerikanischen UFA, Inc., bilden dazu die jeweiligen Flughafen-Landschaften und Objekte realitätsgetreu nach.

Darüber hinaus hat ATCSim einen Fahrsimulator für das Bodenpersonal an Flughäfen entwickelt. Damit trainiert beispielsweise die Flughafen-Feuerwehr am Ben Gurion Flughafen Tel Aviv für den Ernstfall. „Bei der Umsetzung unserer Lösungen und der Software-Entwicklung wird intensiv mit Technologien, die man klassisch aus dem Gamesbereich kennt, gearbeitet“, sagt Entwicklungsleiter Ivan Rasin. „Neue Fachkräfte finden wir nicht zuletzt bei Games-Engineering-Studenten.“

Und die Beispiele mehren sich: Daimler Forschungstochter Daimler Protics etwa arbeitet an der Gestaltung digitaler Realitäten im Konzern wie in Fahrzeugen und entwickelt mit 3D-Experten wie NetAllied in Ravensburg neue Engineering-Prozesse. Entwickler der Hans Hundegger AG, ein Weltmarktführer für CNC-gesteuerte Holzverarbeitungs-Maschinen, nutzen Games-Technologien für realitätsnahe Maschinen-Simulationen, um Fehler bei der Produktion oder Kollisionen von Werkzeugen zu vermeiden. „In der Spielbranche steckt ein großes Potential, das wir gern weiter nutzen wollen“, sagt Sebastian Scheuerl, stellvertretender Leiter der Softwareentwicklung. „Wir halten die Augen offen.“

Level 3: Spielend lernen

So sehr der Ruf der Deutschen Bahn unter notorischen Verspätungen leidet – beim Thema Spielen im Cyberspace fährt der Staatskonzern vorne mit. Der Schienenriese schult mittlerweile seine Mitarbeiter mit typisch immersiven Technologien wie Virtual- und Augmented Reality zum Kuppeln von Zügen oder zur Nutzung des Rollstuhlfahrer-Lifts im ICE4. Der Vorteil: „Für die Schulungen müssen keine Züge mehr blockiert werden, die Mitarbeiter lernen alle notwendigen Schritte zunächst am virtuellen Objekt im Klassenzimmer“, berichtet Felix Falk, Geschäftsführer des Branchenverbandes der deutschen Gamesbranche. Auch auf anderen Spielfeldern ist virtuelle Realität im Einsatz. So hat das Münchner Startup VISCOPIC eine Schulung mit realitätsnahen Hologrammen von Weichen entwickelt, um das Beheben von Störungen und andere Zwischenfälle zu trainieren. Ein Spielzug gegen Fachkräftemangel.

„Gerade mit Blick auf Industrie 4.0 werden Games-Technologien immer wichtiger für sämtliche Industriezweige in Deutschland“, sagt Games-Vorstand Falk. Unternehmen vom Automobilbau bis zum Textilgewerbe könnten von der großen Expertise bei 3D-Technologien, bei der Gestaltung benutzerfreundlicher User-Interfaces sowie bei Simulationen profitieren. „Hier gehört die Gamesbranche zu den technologischen Vorreitern“, sagt Falk. „Ohne ihre Innovationen wäre eine ökonomische Modell- und Produktentwicklung in anderen Bereichen heute kaum noch denkbar.“
Daneben setzen sich auch die Spielregeln des Entertainments in spielfremden Wirtschaftsbereichen immer mehr durch. Wettkämpfe und Belohnungen, Punkte, Bonussysteme und Levels befördern die intrinsische Motivation und Lernbereitschaft der Mitarbeiter. Schließlich sind viele Mitarbeiter solcherart Bedienung aus ihrem Alltag längst gewöhnt.
Nach einer Studie des Games-Verbandes mit PricewaterhouseCoopers haben bereits 56 Prozent der befragten Personalverantwortlichen Lernspiele eingesetzt, um sich selbst oder Mitarbeiter in ihrem Unternehmen fortzubilden. Die Schulungspalette reicht dabei von der Vermittlung von Fachwissen und dem Erlernen einer Sprache über das Training kognitiver Fähigkeiten bis hin zu Softskills wie einer verbesserten Konfliktfähigkeit. „Serious Games“ haben den großen Vorteil, dass sie Lerninhalte interaktiv vermitteln und ein intuitives und individuelles Lernen ermöglichen, unabhängig vom Alter und der Spielaffinität der Nutzer. „Mit der zunehmenden Komplexität der Arbeitswelt wird der Bedarf nach solchen Angeboten weiter steigen“, sagt Falk voraus.
Mit Spiel-Elementen in anderen Kontexten kennen sich auch die Digitalisierungs-Berater von MHP bestens aus. „Gamification begegnet uns an verschiedenen Stellen immer wieder“, sagt Mobilitätsexperte Marcus Willand, Associated Partner bei MHP. „Sie ist ein hilfreicher Ansatz, um beim Menschen ein gewünschtes Verhalten auszulösen – etwa für mehr Nachhaltigkeit.“ Autofahrer beispielsweise könnten zu einer sparsamen Fahrweise motiviert werden, wenn sie im Borddisplay mit spielerischen Mitteln wie Icons, Punkten oder roten und grünen Fortschrittsbalken dazu animiert werden. „Solche Anreizfunktionen müssen aber frei wählbar sein – Sanktionen sind nicht förderlich“, betont Willand. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniere beispielsweise die Whim-App zur Auswahl öffentlicher Verkehrsmittel von Maas Global aus Helsinki. Dank einem monetären Ansatz könnten Nutzer monatlich Geld sparen, wenn sie sich damit für besonders umweltschonende Wege entscheiden – und zwar mehr als Spielgeld.
Dabei sollen trotz aller Faszination freilich auch kritische Seiten des übertriebenen Spielens nicht vergessen werden, wie Ablenkung vom eigentlichen Arbeitsinhalt, drohendes Suchtverhalten oder Kontrollverluste. Die spielerische Form der Motivation, sagen Kritiker, können zudem zu Manipulation von Nutzern oder verschärftem Wettbewerb unter Kollegen führen. Nötig ist daher ein reflektierter Einsatz der neuen Games-Möglichkeiten.

Level 4: Gehen Sie über Los

Mehr als 30 000 Mitarbeiter, 399 Standorte auf fünf Kontinenten, fast 84 Millionen Sendungen im Jahr: Der Dienstleister Dachser aus Kempten ist ein weltweiter Player im Logistikgeschäft. Zu seinem IT-Bereich gehören mittlerweile mehr als 400 Leute, es gibt sogar ein Team Research- and Development und eine Arbeitsgruppe für Usability, was sehr unüblich ist. Die Kollegen sind immer auf der Suche nach neuen Trends. Kürzlich hatten sie für ein halbes Jahr einen Games-Engineering-Studenten im Haus. Es war eine neue Art der Begegnung – sprachlich, menschlich, technologisch. Alles war anders. Hubert Reiser, Department Head Collaboration and User Experience, nimmt solche Bereicherungen gern auf. „Wir wollen von den Studenten lernen, welche Verfahren, Algorithmen, Ansätze und Methoden in der Gameswelt vorhanden sind.“

Reiser ist ein neugieriger Mann. Er stellt mehr Fragen als beständig Antworten zu geben. Mit dieser Offenheit geht er auch an zukünftige Planspiele für die Logistik heran. „Uns interessiert: Warum kann man Spiele ohne große Anleitung beginnen? Warum machen sie Spaß? Warum spielt man sie freiwillig? Diese einfache, elegante Bedienbarkeit – da ist für unsere Betriebsabläufe etwas dran.“ Reiser fuhr sogar auf die Gamescom nach Köln und ließ sich auch von skeptischen Blicken nicht davon abbringen. „Ich will mir Impulse holen, will die Technologien, die Wirkungsweisen und die gesellschaftlichen Veränderungen kennenlernen. Außerdem finden wir dort unter anderem auch die potenziellen Mitarbeiter von morgen.“
Klar ist: Digitalisierung wird bei Dachser in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine noch größere Rolle spielen als bisher, und Games könnten bei der Transformation ein treibender Faktor sein. Reiser sieht dabei durchaus Parallelen zur Logistik. „Computerspiele und LKW-Beladung zum Beispiel haben bei aller Unterschiedlichkeit viel gemeinsam: Sie haben mit der optimalen Nutzung von Räumen zu tun – wie beim Spiel Tetris.“ Zukünftig könne vielleicht eine ideale Beladung mit den Daten von Gütern und Paletten mit Unterstützung aus dem Game-Bereich genau vorausgeplant werden. Auch realitätsgetreue Wettermodelle, wie sie in Games-Anwendungen vorkommen, könnten für die Logistik eine Rolle spielen. Das gilt ebenso für den intuitiven Gebrauch von Handhelds: den „Gameboy für den Fahrer“. Denn neuen Kollegen bleibt in Zeiten knapper Mitarbeiter kaum noch Zeit zur Einarbeitung. Also müssen Geräte selbsterklärend sein und am besten sogar Spaß machen. „Es ist gut, sich heute mit diesen Entwicklungen zu beschäftigen. Wo und wie wir sie nutzen, werden die nächsten Jahre zeigen. Wer weiß heute schon, welche Trends uns in Zukunft erwarten?“

Hin und wieder arbeitet der IT-Experte von Dachser eng mit Bernd Dreier von der Hochschule Kempten zusammen. Der Professor hat bereits klare Vorstellungen davon, was die Zukunft 2025 bringt. „Virtual Reality und Visualisierung werden in ein paar Jahren ganz selbstverständlich sein“, sagt Dreier voraus. „Die spannende Frage bei Industrie 5.0 wird sein, wie Menschen und KI-getriebene Maschinen im Internet der Dinge intelligent interagieren.“ Bei diesem Zukunftsthema seien Gamestudios bereits eine Generation voraus. „Die Industrie“, sagt Dreier, „weiß noch gar nicht, wie sehr sie von der Gamesbranche profitieren kann.“