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brand eins 02/2019 Link: brandeins.de Download PDF

Verleihfix

Räder leihen per App gehört in Großstädten heute zum Alltag. Ein großer Treiber des Trends ist Nextbike aus Leipzig. Der ruhelose Gründer Ralf Kalupner sorgt dafür, dass die Firma ihr System immer wieder neu erfindet.

Ralf Kalupner ist ein unruhiger Geist, er kann einfach nicht lange stillsitzen. Kaum hat das Gespräch begonnen, steht er auf, lehnt sich ins Fenster, setzt sich wieder hin, rennt kurz raus, um etwas zu holen, spricht weiter. Er schaut auf sein Handy, zeigt ein Video, das er bekommen hat: Ein Kollege hat einen Lagerplatz mit Hunderten Mieträdern eines asiatischen Konkurrenten gefilmt. Kalupner lacht.

Kein Wunder, dass der Mann gut gelaunt ist: Kalupner ist Gründer und Chef von Nextbike, einem der größten Fahrradverleihsysteme in Europa. Und wenn der 44-Jährige von all den Plänen und Ideen erzählt, die ihn momentan umtreiben, nimmt man ihm seine Unruhe nicht übel. Kalupner braucht Bewegung. Der Erfolg seines Fahrrad-Geschäftes hat viel zu tun mit dieser Rastlosigkeit nach dem physikalischen Zweirad-Gesetz: Wer stehen bleibt, fällt um.

Das Prinzip von Nextbike ist simpel. Einmal online anmelden, fünfstellige Radnummer in die App eintippen, Schloss-Code erhalten und in den Bike-Computer eingeben, dann springt das Schloss auf.

Wer sich registriert hat, kann in jeder Nextbike-Partnerstadt mitfahren. Registrierung und Ausleihe funktionieren über Apps, Stations-Terminals, Hotlines oder Bikecomputer. Durchschnittliche Kosten: ein Euro pro halbe Stunde, neun Euro am Tag. In vielen Verkehrsverbünden und für Studierende kooperierender Hochschulen und Universitäten sind die ersten 30, manchmal auch 60 Minuten kostenlos.
Inzwischen haben die Mieträder aus Leipzig mehr als 200 Städte in 27 Ländern auf vier Kontinenten erobert. Das internationale Netzwerk reicht von Victoria im Westen Kanadas über Indiens Hauptstadt Neu-Delhi bis nach Auckland, Neuseeland. In Deutschland sind mehr als 60 Städte dabei, oft unter eigenen Namen. Mehr als 50 000 Nextbike-Räder rollen auf der ganzen Welt, und wenn es nach Kalupner geht, sollen es in einem Jahr doppelt so viele sein.

Die Erfolgsgeschichte von Nextbike begann zunächst wie ein Räuber-und-Gendarm-Spiel. Mit einem geliehenen Transporter fuhr Kalupner im Sommer 2005 seine ersten 15 Räder auf die Straßen um den Leipziger Hauptbahnhof. Damals sorgte er sich vor allem darum, wer wohl schneller ist: die ersten Nutzer oder die ersten Diebe. Nach seinem Diplom als Wirtschaftsingenieur in Dresden und einem ersten Job in Ludwigshafen träumte er davon, gebrauchte Räder auf der Neckarwiese in Heidelberg zu verleihen. „Auf einen festen Job in einem Konzern hatte ich keine Lust.“ Seinerzeit kamen Fahrradschlösser mit Codeschloss auf den Markt und die ersten Vermietsysteme via Telefon in München. Nachdem Freunde eine IT-Firma in Leipzig gründeten, beschloss der damals 28-Jährige, seine Idee mit ihnen in die Tat umzusetzen. 2004 entstand Nextbike. Nach und nach kam das Start-up ins Rollen.

Hilfreich war, dass das Unternehmen im Trend lag – und immer noch liegt. Experten sagen Mieträdern ein großes Potenzial voraus. Laut einer Studie der Unternehmensberatung Roland Berger könnte der Umsatz mit Bikesharing bis 2021 jährlich um 20 Prozent auf bis zu acht Milliarden Euro steigen, besonders in staugeplagten Metropolen. Immer mehr Menschen, so heißt es, zahlen heute lieber für eine Dienstleistung als für den Besitz eines Fortbewegungsmittels.

Allerdings bedeute der Boom auch, dass die europäische Branche in ihren Heimatmärkten mit finanzstarken, globalen Wettbewerbern kämpfen muss, sagt Roland-Berger-Experte Alexander Dyskin. Asiatische Anbieter, die freie, von festen Standorten unabhängige Systeme betreiben, hätten mehr als drei Milliarden US-Dollar Risikokapital aufgetrieben. „Dass einige Anbieter wegen finanzieller Probleme wieder verschwunden sind, zeigt, wie angespannt die Situation im Markt ist.“

Etliche Großstädte kennen das Dilemma. 2017 hatten sich gleich mehrere Anbieter aus Fernost mit Namen wie Obike, Mobike oder Yobike in Wien, London oder München unbeliebt gemacht. Sie hatten ihre knalligen Räder oft ohne Absprache, Genehmigung oder Wartung auf die Straßen gestellt und bekamen bald die Vermüllung des öffentlichen Raums vorgeworfen. Wenn Begriffe wie „gelbe Flut“ und „Invasion“ Schlagzeilen machen, hat man ein Imageproblem und viel Geld verbrannt. Obike ist bereits pleite.

Nextbike aber überschwemmt keine fremden Städte. Bevor die Verleiher losrollen, reden Kalupner und sein Team lange mit ihren Auftraggebern und tasten sich an lokale Lösungen heran. Das können die Rathäuser großer Städte sein, Verkehrsbetriebe, Universitäten oder Unternehmen. Soll es Stationen geben und wo? Wie sollen die Räder aussehen? Gibt es Freiminuten? Erst dann wird in die Pedale getreten. „In Deutschland kooperieren wir in nahezu jeder Stadt mit dem öffentlichen Nahverkehr“, sagt Kalupner. Oft seien auch Hochschulen mit an Bord, wie in den zehn Städten von Metropolradruhr. „Unsere Kompetenz ist es, uns als neues Glied in den bestehenden Nahverkehr einzureihen.“

Gerade weil Technologien und Tarife oft erst für die Standorte entwickelt werden, ist Nextbike ein Treiber der Branche geworden. Beispiele zeigen das. In Bilbao wurde mit „bilbaobizi“ das bisher größte smarte E-Bike-System gestartet. Ab Frühjahr stehen dort 450 E-Bikes. Geladen werden sie an den 40 eigenen Stationen, geöffnet wird per QR-Code – beides Eigenentwicklungen von Nextbike. In Warschau ist mit Veturilo eines der vielseitigsten Fahrradsysteme in Europa entstanden: Dort stehen auch zig Kinderräder, Tandems und bald Cargobikes bereit.

In ihrer Heimat Leipzig operieren die Pioniere seit Mai mit einer Kombination aus festen Stationen und Freefloating. Innerhalb eines umgrenzten Stadtgebiets, das auf der App zu sehen ist, darf man sein Rad überall abstellen. Seither hätten sich die Nutzerzahlen vervierfacht, sagt Kalupner. Auch in Berlin, Dresden, Bremen und Köln gibt es bereits Flexzonen. Die Münchner Verkehrsgesellschaft dehnt derweil ihr MVG-Rad auf den Landkreis aus und errichtet 160 Stationen im Umland. München gilt damit als Modell für andere.

Die Leipziger Zentrale hat sich mit den Jahren zu einer Austauschplattform für das weltweite Netzwerk entwickelt. Dabei sind es nicht nur Kundenwünsche, die das Unternehmen vorwärtstreiben, sondern ebenso die Einfälle des quirligen Gründers. „Manchmal rollen die Kollegen schon mit den Augen, wenn Ralf wieder mit neuen Ideen ins Büro gestürmt kommt“, erzählt Mareike Rauchhaus, die Marketingleiterin. Besonders, wenn der Chef von seinem Verbindungsmann für Taiwan und China zurückkehre, sprudele er vor neuen Plänen. „Viele Gedankenspiele sind heute Realität“, sagt Ralf Kalupner und grinst. „Manche gute Idee drängt sich einfach auf.“

Tatsächlich hat Nextbike bis zu seinem heutigen Stand der Technik einen weiten Weg hinter sich gebracht. Vor 15 Jahren war an Apps, die QR-Codes lesen, noch nicht zu denken. Hatte man ein Fahrrad zum Ausleihen entdeckt, schrieb man eine SMS mit der Radnummer an die Zentrale. Dann wartete man auf einen vierstelligen Code, um das Schloss zu öffnen. Geschichten aus einer anderen Zeit.

Auch die Räder sehen anders aus als vor 15 Jahren. Der einst schwanenförmig geschwungene Rahmen ist heute schnurgerade, der Bordcomputer kleiner, das Rahmenschloss funkt GPS, GPRS und Bluetooth, Solarmodule sorgen für den nötigen Strom. Freilich gibt es auch mal Pannen. Etwa, weil Nutzer ein geliehenes Rad, das in der App angezeigt wird, im verschlossenen Hinterhof abgestellt haben oder weil ein Fahrradschloss aus unerfindlichen Gründen nicht öffnet. Dann muss die Hotline helfen.

Allein ist Nextbike auf seinem Rad-Weg nicht. Größter Konkurrent in Deutschland ist die DB-Tochter Call-a-Bike, die ein Vermietsystem mit rund 15 000 Fahrrädern in 45 Städten und an Fernbahnhöfen betreibt. Der bundeseigene Logistikriese liegt im ewigen Wettrennen mit Nextbike mal im Windschatten, mal eine Radlänge vorn. So hatte Nextbike 2016 die Ausschreibung für Berlin gegen den Konkurrenten gewonnen. Allerdings zog sich Call-a-Bike, nicht kampflos zurück, sondern tat sich mit Discounter Lidl zusammen. Dafür kooperiert Nextbike jetzt mit dem Musikstreaming-Dienst Deezer. Im Juni konnte dann die Bahn das Hamburger Stadtrad-System verteidigen. Ausgang des Verfolgungsrennens: ungewiss. Kalupner wurmt das. „Es ist schade“, sagt er, „dass ein Staatskonzern einem Privatunternehmen in die Speichen greift.“

Eine Etage unter den Großraumbüros des Managements sitzt die Entwicklungsabteilung, mehr als 20 Leute. Deren Chefin Julia Cholet rauscht vorbei, sie hat keine Zeit. „Wir ersticken in Arbeit“, sagte sie entschuldigend und läuft zum nächsten Meeting. Das Whiteboard auf dem schmalen Flur ist übersät mit Klebezetteln in Blau, Weiß und Rosa. Auf einem Post-it steht: „predicting balancing“: Die IT-Experten planen, einen Algorithmus zu schreiben, der die Ausleihfrequenz an den Stationen auswertet und vorhersagt. Mithilfe künstlicher Intelligenz sollen die Serviceteams die Fahrräder zur richtigen Zeit an die richtigen Stellen bringen. In die Prognosen soll künftig sogar der Wetterbericht einfließen.

In einem Büro, das eher einer Werkstatt gleicht, basteln drei junge Männer zwischen Computern und Platinen, Messgeräten und aufgeschraubten Fahrradständern an neuen technischen Lösungen. Ein Kunde möchte etwa, dass seine Räder per Monatskarte mit RFID geöffnet werden können – hier entsteht die Lösung. Die jeweiligen Räder, Ständer, Schließsysteme und Ausleihstationen baut Nextbike in einer firmeneigenen Manufaktur selbst zusammen.

Den Weg in die Produktion zeigt Mareike Rauchhaus mit dem Fahrrad. Vom Büro fährt man eine Viertelstunde am Ufer des Karl-Heine-Kanals entlang, der auf Initiative des Industriepioniers vor mehr als 150 Jahren angelegt wurde, bis man in einem Gewerbegebiet aus den Neunzigerjahren landet. Irgendwo zwischen Autohäusern und Bushido-Sportcenter sind Unmengen von grünen, blauen und silbernen Rädern zu sehen – willkommen bei Nextbike. Zwischen Werktischen stehen Kisten mit Metallteilen und Schaltungen, daneben Regale mit Schlössern, Gabeln und Reifen. Männer mit Latzhosen und Fleecepullovern bohren, schweißen und schrauben, es riecht nach Schmiermittel. Bis zu 100 Räder am Tag werden hier wie aus einem überdimensionalen Technikbaukasten montiert, bevor sie ins Ausland gehen.

An Arbeit wird es wohl in absehbarer Zeit nicht mangeln. Das Unternehmen macht fast 30 Millionen Euro Jahresumsatz, bei zweistelligen Zuwachsraten. Allein in Deutschland hat der Rad-Verleih, der immer noch zu etwa zwei Dritteln den Gründern gehört, 300 Mitarbeiter, weitere 100 sind es bei europäischen Töchtern. Sein Geld verdient Nextbike aber nicht allein mit den Gebühren für die Mieträder – das würde sich nicht rechnen. Weitere Erlöse stammen von kommunalen Auftraggebern wie Verkehrsverbünden, die ihren Kunden Freiminuten schenken. „Das ist sexy und sorgt für weniger Autos in der Stadt“, sagt Kalupner. Einen wichtigen Teil des Umsatzes machen zudem Werbeflächen aus, die in den Fahrradrahmen hängen.
Verkehrsfachleute sehen Bikesharing heute ebenfalls als wichtigen Baustein für Mobilität. „Entscheidend ist die Verzahnung mit dem öffentlichen Nahverkehr“, sagt Alexander Jung, Projektleiter bei der Initiative „Agora Verkehrswende“ der Stiftung Mercator und der European Climate Foundation. Wenn die öffentliche Hand Verleihangebote mit Fördergeldern unterstütze, stärke das zugleich den Nahverkehr. „Nextbike hat verstanden, wie man mit Städten kooperiert“, sagt Jung. Nicht immer seien die Leipziger aber Treiber ihrer Branche – sondern manchmal auch Getriebene, die schnell auf neue Trends reagierten.

Beobachter der Szene wie Gero Storjohann sehen zudem Gegenwind aus einer unerwarteten Richtung aufziehen. Der CDU-Abgeordnete aus Bad Segeberg, Gründer und Vorsitzender des Parlamentskreises Fahrrad im Bundestag, erwartet in diesem Jahr den Aufstieg kleiner Tretroller mit Elektromotor: Die Erlaubnis für die handlichen, faltbaren und strombetriebenen Kick-Scooter, die bisher auf deutschen Straßen und Wegen verboten sind, werde der Bund im Frühjahr erteilen. Elektroroller seien hilfreich für die letzte Meile, etwa vom Bahnhof bis zum eigentlichen Reiseziel – gerade für Leute, die nicht Radfahren oder zu Fuß gehen wollen oder können. „Das Geschäftsmodell wird kommen und sich durchsetzen“, nimmt Storjohann an. Auch Alexander Jung ist sich sicher: „Da kommt eine riesige Herausforderung.“ In Tel Aviv etwa hätten Elektroroller die meisten Mieträder verdrängt. In Deutschland stünden schon Start-ups mit viel Kapital in den Startlöchern.

Nextbike-Chef Kalupner zweifelt noch, ob es so kommt, wie die Auguren sagen. „Wir warten erst mal ab, ob das wieder eine Blase ist. Scooter sind sehr unfallträchtig.“ Für den Unternehmenschef ist das Rad ohnehin nicht nur ein Geschäftsmodell – es ist ihm Passion und Mission. „Radfahren sorgt für ein schönes Lebensgefühl: gesund, ökologisch, sportlich, schnell und günstig“, schwärmt er mit ausgebreiteten Armen. „Unsere Vision ist, dass immer mehr Leute aufs Rad steigen und die Hälfte ihrer Wege an der frischen Luft erledigen.“ Er jedenfalls, sagt der Familienvater, besitze nicht mal ein Auto.