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FOCUS Business 02.01.2020 Download PDF

SO ESSEN WIR MORGEN

2050 gibt es rund zehn Milliarden Menschen. Wie soll die Erde sie ernähren? Naturkost aus der Großstadt, Fleischersatz vom Acker oder Insekten und Algen aus dem Labor markieren Trends, aus denen sich die Zukunft speisen könnte. Auch made in Germany

Ein kleiner Spaziergang durch Berlin gibt einen Vorgeschmackdarauf, wie die Speisekarte der Zukunft aussehen kann. In der Gemüseabteilung des Edeka-Marktes Kollwitzkiez leuchtet lila-weiß ein gläserner Kühlschrank voller Kräuter: Drei Sorten Basilikum, Zitronenmelisse und Koriander gedeihen hier mitten im Supermarkt, übereinander angebaut auf vier Regalebenen. Preis pro Bündel: 1,29 Euro. „Deine Nachbarschaft ist unsere Farm“ hat das Start-up Infarm auf das Minigewächshaus geschrieben. Die vertikalen Brutkästen bieten den Pflanzen dank künstlichem Sonnenlicht, ausgeklügelter Lüftung sowie Wasser und Nährstoffen ideale, wenn auch sterile Wachstumsbedingungen – und den Kunden absolute Frische. Die Kräuter müssen nicht erst viele Kilometer nach Berlin transportiert und in Kühlketten gelagert werden. Sie werden direkt im Supermarkt geerntet. Rund 200 Kräuterpflanzen verkaufe sein Markt jede Woche, sagt Filialleiter René Pohl. Manche Kunden kämen eigens wegen der frischen Kräuter in den Markt: „Es läuft super.“ Das urbane Farming-Konzept gibt eine der vielen Antworten auf die Frage, wie die Menschheit auch in Zukunft ernährt werden kann: Wenn die Metropolen weiter expandieren, Ackerflächen erodieren und die Weltbevölkerung auf zehn Milliarden Menschen wächst. Statt in die Breite geht es in die Höhe.

KRÄUTERBEET IM SUPERMARKT

Mehr als 25 große Lebensmittelketten wie Edeka, Metro oder Migros hat Infarm international schon für sich begeistert. Gut 500 Farmen in Märkten und Verteilzentren lassen jeden Monat weit mehr als 200 000 Pflanzen wachsen, berichtet Infarm-Co-Gründerin Osnat Michaeli. Ihre Vision: Städte in ihrer Nahrungsmittelproduktion autark machen und zugleich die Sicherheit, Qualität und Umweltbilanz deutlich verbessern. „Vertikale Landwirtschaft verbraucht bis zu 95 Prozent weniger Wasser und 75 Prozent weniger Düngemittel als konventionelle Frischeprodukte vom Feld“, rechnet Michaeli vor. „Wir pumpen keine schädlichen Chemikalien in den Boden oder das Grundwasser und bauen die Pflanzen auf einem Bruchteil traditioneller Landwirtschaftsflächen an.“ Zwar verbrauchen die Kräuterkästen und ihre wöchentliche Versorgung einige Energie – doch LEDs leuchten effizient, und im Energiemanagement werde es zunehmend sauberere Lösungen geben, ist die vertikale Farmerin überzeugt.
Auch der Berliner Star-Koch Tim Raue nutzt inzwischen Infarm-Brutkästen. In der Berliner Lunch-Bar „Good Bank“ bauen die Betreiber die Zutaten für ihre Salate, Suppen und Bowls sogar direkt im Gastraum an: in weißen Regalen, hinter Glas, ohne Erde und Pestizide. „Wir ernten“, erzählt die 30-jährige Gründerin Ema Simurda Pauli, „jede Woche bis zu 70 Salatköpfe.“

DIE REVOLUTION IM GEWÄCHSHAUS

Nur ein paar Kilometer entfernt, hinter einer alten Schultheiß-Mälzerei in Schöneberg, steht eine der modernsten städtischen Aquaponik-Anlagen Europas. Im großen Gewächshaus duftet es nach Basilikum, Tausende Töpfe stehen hier in Reih und Glied. Sie sind Teil eines neuartigen Hochleistungssystems: Seit gut zwei Jahren baut die Berliner ECF Farm ihr „Hauptstadtbasilikum“ für lokale Rewe-Märkte an: mindestens 7500 Töpfe die Woche. Direkt neben dem Gewächshaus schwimmen in einem Dutzend schwarzer Kunststofffässer Tausende „Hauptstadtbarsche“. Nach etwa acht Monaten Lebenszeit haben die Fische ihr Erntegewicht von 500 Gramm erreicht – und so lange auch für die Nährstoffversorgung des Basilikums gesorgt. Die Wasserkreisläufe für Fischzucht und Pflanzen sind so miteinander verbunden, dass die Ausscheidungen der silber- und rosafarbenen Buntbarsche das Basilikum versorgen und das Wasser danach wiederverwertet werden kann.
„Wir sparen 90 Prozent des sonst üblichen Wasserbedarfs“, sagt Co-Gründer und Geschäftsführer Nicolas Leschke. Sensoren überwachen Licht, Luft und Sauerstoffgehalt, Feuchtigkeit, Temperaturen und Nährstoffe. Ein computergesteuertes System regelt alle Parameter und sendet Alarm, falls etwas aus dem Ruder läuft. Für die effiziente und ökologische Variante der Landwirtschaft verwenden die Großstadtfarmer Bio-Erde und Nützlinge wie die Gallmücke gegen Blattläuse oder Fadenwürmer gegen Fruchtfliegen. Die Optimierung hat System. „Die Menschen müssen künftig auf weniger Flächen und mit weniger Ressourcen deutlich mehr Nahrung produzieren“, sagt Leschke, der in seiner ECF Farm eine Antwort auf diese Herausforderung sieht: „Um eine Großstadt wie Berlin mit Salaten zu versorgen, könnten schon acht Hektar Gewächshausflächen ausreichen.“ Das entspräche einer Fläche von gerade mal elf Fußballfeldern. „Idealerweise sollten sie gleich neben den Zentrallagern der Supermarktketten stehen, um Transportwege, Flächenverbrauch und CO2-Ausstoß zu reduzieren.“ Leschke und sein Team haben mittlerweile zwei weitere Anlagen in Brüssel und im schweizerischen Bad Ragaz gebaut, die auch mit Asia-Salat und mit Tomaten funktionieren. Ein weiterer „Barschilikum“-Ableger ist in der Mitte Deutschlands geplant.

GEMÜSEBEETE IM LUFTSCHUTZKELLER

Urbane Hightech-Bauernhöfe wie diese finden sich in immer mehr Metropolender Welt. Auch Technologiekonzerne steigen inzwischen ins Agrargeschäft ein: In den USA betreibt Aerofarms seit Ende 2016 mehrere vertikale Salatfabriken zur Versorgung New Yorks. In London haben zwei Briten einen alten Luftschutzbunker in ein unterirdisches Gemüsebeet verwandelt. Bei Venlo in den Niederlanden läuft mit der Brightbox eine der größten Versuchsanlagen für Stadtlandwirtschaft. Auch Viehhaltung ist in der Stadt denkbar: Im Rotterdamer Hafen bezogen unlängst 30 Kühe die erste auf Pontons schwimmende Farm. „Die 2020er-Jahre werden das Jahrzehnt der vertikalen Agrarrevolution“, sagt Google-Zukunftsforscher Ray Kurzweil. „Wir werden Lebensmittel in von künstlicher Intelligenz kontrollierten Gebäuden und nicht in horizontalen Flächen anbauen: hydroponische Pflanzen für Obst und Gemüse – und dazu in vitro geklontes Fleisch.“ Tatsächlich dürfte es eine deutliche Verschiebung beim Fleischkonsum geben – dem größten Ressourcenposten mit dem größten CO2-Fußabdruck. Längst sind ernst zu nehmende pflanzliche Alternativen entstanden. Neben der gefeierten Boom-Marke Beyond Meat aus den USA haben diverse Anbieter – von der Bio-Kette Alnatura bis zu Discountern wie Lidl oder Penny – vegane Fleischersatz-Patties kreiert. Sie basieren meist auf Erbsenprotein und Roter Bete, Fett und Spurenelementen, sie sehen aus wie Fleisch und schmecken auch annähernd so. „Pflanzliche Fleischalternativen der zweiten und dritten Generation werden zusehends besser“, sagt die Wiener Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler (siehe rechts). Der „Impossible“Burger aus Kalifornien etwa ist von einem herkömmlichen Fleischklops optisch nicht mehr zu unterscheiden. Auch andere tierische Produkte lassen sich ersetzen: „Just Mayo“ etwa ist mit einer eifreien Mayonnaise sehr erfolgreich. „Der Markt ist lebendig und macht es uns immer leichter“, sagt die Essenstrendforscherin. Mit ihren enormen strategischen Investitionen würden die großen Fleisch und Milchproduzenten das Tempo der Veränderungen gewaltig steigern. Allein: Die positiven Effekte der zunehmend vegetarischen und veganen Ernährung werden von einer parallel verlaufenden Entwicklung überlagert. Mit der Weltbevölkerung wächst auch eine neue Mittelschicht in Asien und Afrika – und mit ihr der Hunger auf Fleisch. Der Bedarf an Rindern und Schweinen dürfte künftig durch natürliche Produktion kaum mehr zu decken sein, prognostiziert Zukunftsforscher Sven Gabor Janszky. „Stattdessen wird künstlich hergestelltes Fleisch aus tierischen Stammzellen, das genauso aussieht und schmeckt wie natürliches Fleisch, eine billige und klimaneutrale Alternative sein.“ Bereits 2013 haben Wissenschaftler der Universität Maastricht erstmals einen Burger aus Stammzellen von Rindern erzeugt. Für das Fleisch aus dem Labor – sogenanntes Clean Meat – werden universelle Zellen aus Muskelgewebe auf einer tierischen Nährlösung entwickelt und durch mechanische und elektrische Impulse trainiert. Muskelfett sorgt zusätzlich für einen fleischigen Geschmack.

Die Forscher hoffen, so den wachsenden Fleischhunger der Welt ohne Massentierhaltung zu stillen. Die Food-Tech-Start-ups Mosa Meat in Maastricht und Memphis Meat in Kalifornien sind bereits auf dem Weg zur Marktreife. Selbst der US-Fleischriese Tyson Foods hat in die Entwicklung investiert. SuperMeat in Tel Aviv will schon in wenigen Jahren Enten- und Hühnerfleisch ohne Auslauf und Ställe produzieren. Vor allem junge Leute seien für solche technologischen Nahrungsmittel-Alternativen offen, beobachtet Zukunftsforscherin Rützler. Sie rütteln viel hemmungsloser am romantischen Ideal der Nahrungsmittel vom Bauernhof. Und was bei Rindern und Hühnern gelingt, funktioniert offenbar auch mit Fischen: Finless Foods aus Kalifornien züchtet bereits Fischfleisch im Labor und will zukünftig Karpfenkroketten und Thunfischfilets zu erschwinglichen Preisen anbieten.

SCHÄDLINGE ALS NÜTZLINGE

In einer Café-Küche in München steht Mathias Rasch am Gastro-Herd und taucht einen Probierlöffel in ein Meer gerösteter Grillen auf dem Backblech. Zimtduft hängt in der Luft. Rasch kaut bedächtig, schiebt das Blech noch mal in den Ofen. „Die brauchen noch etwas mehr Röstung“, sagt er. Am Ende werden die Langfühlerschrecken mit einer krossen Zimt-und-Zucker-Kruste ummantelt sein. Sie schmecken crunchy, süß, ein bisschen wie der trockene Schalenanteil im Popcorn. „Wer es probiert, ist meist überrascht, wie lecker es ist“, sagt Rasch, im Hauptberuf Lehrer. Gemeinsam mit zwei Freunden hat der Münchner das Insekten-Start-up Wicked Cricket gegründet und vertreibt Grillen, Mehlwürmer und Heuschrecken als Snack. Im nächsten Schritt sind biozertifizierte Insektenfarmen geplant. „Insekten haben ein enormes Zukunftspotenzial, weil sie klimafreundlich und extrem proteinreich sind“, sagt Co-Gründer Josef Köhl. Sie benötigen 83 Prozent weniger Futter als Rinder und 98 Prozent weniger Wasser als die Geflügelzucht. „Wir wollen sie aus ihrer Nische als exotische Delikatesse herausholen.“
Die Münchner sind nicht allein. Das Pforzheimer Start-up Plumento Foods und das französische Unternehmen Jimini’s produzieren bereits insektenbasierte Nahrungsmittel wie Nudeln und Kekse. In den Niederlanden startete im Sommer Europas größte Insektenfarm Protix, die Larven und Wurmgetier vor allem als Tierfutter-Alternative produziert. Laut Welternährungsorganisation FAO sind Insekten heute schon Teil der Ernährung von zwei Milliarden Menschen – und eine äußerst nahrhafte und nachhaltige dazu, weil sie viele Vitamine, Mineralien und Proteine enthalten. Mehr als 1900 essbare Spezies würden weltweit konsumiert, konstatiert die FAO, darunter vor allem Käfer und Raupen, Bienen und Ameisen, Grashüpfer, Heuschrecken und Grillen. Ökologisch leben Insekten überdies: Sie verursachen geringere Treibhausgasemissionen und brauchen deutlich weniger Land, Futter und Wasser als Rind, Schwein und Geflügel. „Wir sollten das Thema Insekten neu denken und ihr Fleisch oder ihre Öle in verarbeiteter Form anbieten“, sagt Ernährungsforscherin Rützler. In bekannter Gestalt – als Burger oder Brotaufstrich – würden fremde Lebensmittel durchaus akzeptiert. Der Gruseleffekt würde dann verschwinden. Zudem seien Insekten in der Tierhaltung und als Düngemittel sinnvoll einsetzbar – statt Soja und Fischfutter.

NÄHRSTOFFE AUS NEPTUNS KÜCHE

Als ebenso nahrhaft, ökologisch, kalorienarm und schnell wachsend wie Insekten könnten auch Algen eine wichtige Rolle für die Versorgung der Weltbevölkerung übernehmen. Beispiel: Der Algenladen als wohl größter deutscher Online-Shop für Lebensmittel aus Neptuns Küche bringt inzwischen mehr als 200 verschiedene Algenprodukte aus der ganzen Welt unter die Verbraucher. Unter ihnen die Salate und Toppings von Nordic Oceanfruit aus Berlin, der Erfrischungsdrink „Hallo Helga“ aus Österreich und Algenschokolade vom Algenheld aus Leipzig.
Das Start-up Viva Maris aus Schleswig-Holstein züchtet Meeresalgen für Gewürze, Saucen, Brotaufstriche, Pasta und Wurstalternativen. „Unsere Makroalgen holen sich alle Nährstoffe aus dem Meer“, sagt Gründerin Claudia Busse-Uhrig. Daher liegen die Anbaugebiete meist weit im Norden vor Island, Norwegen und den Färöer-Inseln, wo die Gewässer weitgehend unbelastet seien. „Vor langer Zeit waren Algen in der westlichen Kultur etwas Normales“, sagt Busse-Uhrig. „Seefahrer aßen sie täglich, um Mangelerscheinungen vorzubeugen.“
Statistisch müssten für die wachsende Weltbevölkerung theoretisch nicht einmal zusätzliche Mengen an Nahrungsmitteln produziert werden. Etwa ein Drittel aller Lebensmittel landen bei Produktion, Handel und Verbrauchern ungenutzt im Müll – laut Welthungerhilfe jedes Jahr etwa 1,3 Milliarden Tonnen. Neben ehrenamtlichen Initiativen wie den Tafeln oder Foodsharing.de hat das Social-Impact-Start-up Sirplus inzwischen drei „Rettermärkte“ in Berlin samt Online-Shop begründet.
Eine der Filialen hat 2018 im Einkaufszentrum East Side Mall in Berlin-Friedrichshain zwischen üblichen Shopping-Ketten eröffnet. Da gibt es Marmeladen, Tees und Klößchenpulver, die wegen kleiner Macken oder abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum über Großhändler zu Sirplus kommen, dazu eine Obst- und Gemüseabteilung und frische Milchprodukte.

Seit 2017, so rechnet das Unternehmen vor, „konnten wir mit 120 000 Kunden bereits mehr als zwei Millionen Kilo Lebensmittel vor der Vergeudung bewahren.“ Unter ihnen auch Schoko-Osterhasen. Die gab es zur Adventszeit.