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Sächsische Zeitung 21.09.2020 Link: saechsische.de Download PDF

Lieber Lebensretter als Aktenträger

Die Zwillinge Cevin und Sozdar sind vor dem Krieg aus Syrien geflohen. Heute helfen sie Kranken in Leipzig – als Sanitäterinnen bei den Johannitern.

Sie sind darauf eingestellt, dass sie blutige Momente erleben werden. Dass sie schwer Verletzte betreuen, auch Sterbende. Cevin und Sozdar Mohammad schreckt das nicht. „Wir haben Schlimmes gesehen“, sagt Cevin. „In Syrien, wo Tote und Verletzte auf den Straßen lagen.“ Die jungen Zwillinge sind 27 Jahre alt. Vor sechs Jahren kamen sie mit ihrer Familie aus Syrien nach Deutschland, vor anderthalb Jahren begannen sie bei der Johanniter-Akademie in Leipzig eine Ausbildung zum Rettungssanitäter. „Schutzsuchende als Lebensretter“ hieß das 13-monatige Programm für Geflüchtete. Cevin und Sozdar gehörten zu den ersten Teilnehmern.

„Die Prüfung war sehr schwierig“, sagen sie. „Aber wir freuen uns auf die Arbeit.“ Cevin ist seit August in der Rettungswache in Torgau eingesetzt, sie fährt Schichtdienste im Rettungswagen und auf dem Krankentransporter, immer in knalloranger Hose und mit grauem Polo-Shirt. Sozdar muss ihre Führerscheinprüfung noch einmal wiederholen. Zum Jahreswechsel kann auch sie darauf hoffen, bei den Johannitern in Torgau eingestellt zu werden. „Dabei bin ich die Ältere von uns beiden“, sagt Sozdar und lacht. „Ich kam ein paar Minuten vor Cevin auf die Welt.“ Die beiden waren seit ihrer Kindheit immer zusammen, sagen sie. Sie wollen auch diesen Job zusammen machen.

Am Tag als die Bomben fallen, ändert sich ihr Leben. Cevin und Sozdar studieren damals an der Tischrin-Universität in Latakia, eine Hafenstadt am Mittelmeer mit Stränden, Fischerbooten und Yachthafen. Cevin hat sich für Philosophie eingeschrieben, Sozdar für französische Sprache. Ihre Augen leuchten, wenn sie von Latakia sprechen. Im zweiten Studienjahr kommt der Krieg. Ende 2013 greifen islamische Rebellen die Region an. Die verfeindeten Truppen liefern sich schwere Kämpfe, es folgen Artilleriebeschuss und Luftangriffe.

„Wir hörten Schüsse und Schreie“

„Plötzlich war der Strom weg, wir hörten Schüsse und Leute schreien“, erzählt Cevin. „Man konnte dort nicht bleiben.“ Sie packen ein paar Sachen und fliehen, zurück in ihren Heimatort Qamischli an der Grenze zur Türkei. Die Familie beschließt, das Land zu verlassen. „Es ist zu gefährlich“, sagt der Vater, ein Mechatroniker bei einer Ölfirma und Spezialist für große LKW. Mit seiner Frau hat er acht Kinder, vier Mädchen, vier Jungs. Sie sind Muslime, aber der Vater denkt liberal. Und sie sind Kurden, eine Minderheit im Land.

Eine ältere Schwester von Cevin und Sozdar lebt in Ankara, ein großer Bruder ist schon viele Jahre in Leipzig. Sie schmuggeln sich über die Grenze zur Türkei, Genaueres wollen sie nicht erzählen. „Wir haben einen Weg gefunden“, sagt Cevin und lächelt. Ein Bruder bleibt mit seiner Familie in Syrien. Fast ein halbes Jahr warten sie in Ankara auf ein Visum, dann dürfen sie dank eines speziellen Aufnahmeprogramms nach Deutschland. Sie kommen schon Ende 2014, vor der großen Flüchtlingswelle. Sie müssen sich nicht in einer schaukelnden Nussschale über das Mittelmeer zittern. Sie können mit dem Flugzeug reisen. Jahrelang pauken sie die deutsche Sprache, bis zum Kurs B2 für ein gehobenes Sprachniveau. Sie gewöhnen sich in Leipzig ein, ihrer neuen Heimatstadt, bauen Kontakte auf. Sozdar hat kürzlich einen jungen Syrer geheiratet.  
Aber warum ausgerechnet Rettungssanitäterinnen? „Vor der Flucht habe ich im Krankenhaus in unserem Dorf geholfen“, erzählt Sozdar. „Als ich nach Deutschland kam, wollte ich unbedingt in den medizinischen Bereich.“  „Außerdem ist es ein guter Weg, schnell einen richtigen Beruf zu erlernen“, sagt Cevin. Sie hat zwischendurch ehrenamtlich beim Roten Kreuz gejobbt. Später begann sie eine Ausbildung in einer Anwaltskanzlei. Doch Aktenablage war nicht ihre Welt. Dann lieber Rettungswagen.

„Wir wollen nicht politisieren“

Lars Menzel leitete die Akademie der Johanniter Mitteldeutschland in Leipzig, er baut seit Jahren auch für geflüchtete Menschen Angebote und Kurse mit auf. Das seien keine rein karitativen Maßnahmen, sie entstehen auch aus Notwendigkeit: „Wir wollen nicht politisieren – wir sind eine Hilfsorganisation“, betont Menzel. „Rettungssanitäter werden am Arbeitsmarkt schlichtweg gebraucht.“ Allein in Sachsen, wo die Johanniter mehr als 500 Mitarbeiter im Rettungsdienst und Krankentransport beschäftigen, sucht das evangelische Ordenswerk zurzeit ein Dutzend neuer Kollegen. 
Die Johanniter-Akademie bietet Ausbildungen für viele Gesundheits- und Sozialberufe an, darunter Pflegekräfte und Erzieher, Physiotherapeuten, Sozialassistenten und Notfallsanitäter. Die Auszubildenden sind Menschen in verschiedensten Lebenslagen: Junge Leute, Umschüler, Langzeitarbeitslose. In den vergangenen Jahren kamen immer mehr Menschen aus anderen Ländern hinzu. „Wir haben heute 30 Nationen auf dem Campus“, sagt Menzel.  Schon vor der Flüchtlingskrise hätten sich die Johanniter Gedanken darüber gemacht, wie sie neue Leute für ihre Dienste begeistern können. Bei der Betreuung in diversen Flüchtlings-Unterkünften 2015 hätten dann immer wieder Menschen nach Berufschancen gefragt. Manche von ihnen bringen schon passende Ausbildungen oder wichtige Erfahrungen mit, wie Ahmad aus Damaskus. Der junge Mann hat neben seinem Betriebswirtschaftsstudium für die Uno-Hilfsorganisation Unicef gejobbt, er half Kindern, die vor dem Krieg aus dem Libanon nach Syrien geflüchtet waren. Später musste Ahmad selbst aus Syrien fliehen. Inzwischen ist auch er an der Rettungswache in Torgau stationiert.
Vor zwei Jahren entstand das Programm „Schutzsuchende als Lebensretter“ für Menschen wie Sozdar und Cevin. Mit 13 Monaten läuft das Programm länger als für deutsche Schüler, weil neben der fachlichen Ausbildung auch Sprachkurse, interkulturelles Training und die Fahrschule absolviert werden. Hinzu kommen zwei Praktika in Rettungsdiensten und Krankenhäusern. Finanziert wird die Ausbildung vom Arbeitsamt. Alle 14 Teilnehmer aus Afghanistan, dem Iran, Irak und Syrien haben den ersten Ausbildungskurs mit Abschlusszeugnis zu Ende gebracht. „Die Menschen mit Fluchterfahrungen wollen wirklich etwas erreichen und sind dankbar für die Chancen“, sagt Menzel. Derzeit werde ein neuer Kurs für Rettungssanitäter vorbereitet. Er soll, wenn alles klappt, im November beginnen.

Zwei lange Tage haben Sozdar und Cevin Prüfungen hinter sich gebracht, schriftlich und mündlich, in deutscher Sprache. „Das war wahnsinnig schwierig“, sagt Cevin. Um die Prüfungen zu schaffen, hätten sie Zuhause immer wieder Situationen durchgespielt. Inzwischen hat Cevin viele Einsätze gefahren. Dass sie kurdisch und arabisch spricht, hat ihrem Team dabei schon geholfen. Sie kann für Verletzte dolmetschen, wie neulich, als eine arabische Frau zusammenbrach. Abfällige Äußerungen über Flüchtlinge habe sie in ihrem Dienst noch nicht erlebt, sagt sie. Aber sie kenne viele Geflüchtete, die angepöbelt wurden. Sicher gebe es auch schwarze Schafe unter ihnen, Menschen, die nur auf Geld aus seien. „Aber wir sind doch nicht alle gleich“, sagt Cevin. Irgendwann, wenn sie genug Berufserfahrung haben, wollen die Zwillingsschwestern weiterlernen, vielleicht noch eine Ausbildung zur Notfallsanitäterin draufsatteln.  „Wir wollen“, sagt Cevin, „noch viel mehr wissen.”