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Sächsische Zeitung 03.05.2019 Link: saechsische.de Download PDF

Klassentreffen der „Händlerinnen“

Der erste Jahrgang der DDR-Handelshochschule in Leipzig trifft sich 50 Jahre nach der Eröffnung 1969 – und erzählt Geschichten aus einer anderen Welt.

Es war schon ein besonderes Jahr, dieses 1969: Der erste Mensch landet auf dem Mond, Richard Nixon wird US-Präsident und Willy Brandt Bundeskanzler, Walter Ulbricht eröffnet den Fernsehturm auf dem Berliner Alexanderplatz. Und im Windschatten der Weltgeschichte öffnet im Leipziger Merkurhaus die neue alte Handelshochschule der DDR. Unter der Ägide des Ministeriums für Handel und Versorgung soll die Lehranstalt nun den Nachwuchs für die Handelsorganisationen und Hotels der DDR ausbilden – unabhängig von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Marx-Universität, die bei Ulbricht wegen Untauglichkeit und Mangelwirtschaft in Ungnade gefallen war. 50 Jahre später treffen sich die Studentinnen und Studenten der ersten Stunde wieder. Es ist ein Klassentreffen der besonderen Art.

Das liegt nicht zuletzt an der Übermacht der Frauen. Handel und Gastronomie sind in jener DDR-Zeit eine weibliche Domäne: Mehr als 80 Prozent der gut 200 jungen Leute waren bei der feierlichen Immatrikulation Frauen, erzählen die Kommilitonen von damals, die heute das Rentenalter erreicht haben. In jeder 20-köpfigen Seminargruppe saßen höchstens zwei Männer, berichten die Damen amüsiert.

„Der Handelsbereich wurde in der DDR als Frauensache angesehen“, sagt Gabriele Günther, Studentin der ersten Stunde, später selbst Dozentin an ihrer Hochschule und schließlich Wirtschaftsprofessorin der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Ohnehin brachten die weiblichen Anwärterinnen oft bessere Noten mit als männliche Bewerber. In den heutigen Hochschulen, die die Führungskräfte der Wirtschaft ausbilden, ist das Verhältnis anders: Der Frauenanteil liegt bundesweit eher bei 30 Prozent – eine Männer-Wirtschaft.

Der Frauenüberschuss an der alten Handelshochschule wird spätestens zu den Faschingsfeiern und zur Disko in der Mensa ein Thema, über das die reiferen Damen heute noch viel lachen können. Die „Händlerinnen“ taten sich einfach mit den Jungs von den anderen Hochschulen zusammen, besonders von der Sporthochschule DHfK an der Jahn-Allee. Später haben sie sich in alle Winde verstreut, gingen nach Rügen, Schwerin oder Magdeburg, Berlin oder Dresden, dann auch nach Trier oder Nordrhein-Westfalen.

Der harte Kern von damals aber hat den Kontakt zueinander nie verloren. Seit dem Studienabschluss 1973 treffen sie sich einmal im Jahr wieder. In den ersten Jahren spielt eine Handvoll Männer vor allem Fußball am Cottaweg, dann ging man in Auerbachs Keller zum Essen, immer am ersten Sonnabend nach Ostern, immer um 18 Uhr – seit 50 Jahren.

Einer, der die Fäden bis heute in der Hand hält, ist Rolf Pfeifer-Will. Ein Mann mit einem fein gezwirbelten Schnurrbart und einem E-Mail-Verteiler von etwa 40 ehemaligen Kommilitonen. Nach der Wende hat Dr. Pfeifer-Will viele Jahre Studentenwerke in Thüringen geleitet, jetzt ist der 68-Jährige im Ruhestand. „Eigentlich wollte ich unbedingt Hoteldirektor werden“, erzählt der Mann aus Brand-Erbisdorf und grinst. Deshalb sei er an die Hochschule nach Leipzig gegangen.

Doch es kam anders: Der Diplom-Ökonom blieb an der Lehranstalt, promovierte 1981 über soziale Bereiche an Hochschulen und die betriebswirtschaftliche Führung von Mensen – und ging Ende 1989 tatsächlich in die Leitung von Studentenwerken. „Es gab einen großen Zusammenhalt damals, in den Vorlesungen schrieb man die anderen mit auf die Anwesenheitslisten, auch wenn sie gar nicht da waren“, erzählt der Mann verschmitzt. „Da standen dann 120 Namen auf der Liste, auch wenn nur 30 da waren.“

Und man fühlte sich ein bisschen als etwas Besonderes. Wohl auch deshalb haben die jungen Männer damals noch Schlips getragen, wenn sie zum Studieren gingen – auch wenn sie morgens vor dem Seminar noch Kohleeimer schleppen mussten.

1992 wurde die DDR-Handelshochschule geschlossen und noch im gleichen Jahr in privater Trägerschaft wieder gegründet. Seither liegen Welten zwischen dem Hochschulbetrieb von 1969 und der HHL von 2019. Das wird sofort deutlich, als die drei Dutzend reifen Semester ihr Wiedersehen mit einem Rundgang an der HHL beginnen, die heute ihren Sitz in einem alten Plattenbau auf dem Sportcampus an der Jahnallee hat.

Dort begrüßt sie eine junge Frau, die hauptamtlich für die Betreuung der Ehemaligen zuständig ist – und sich „Manager Alumni Relations“ nennt. Die Seminarsprache an der Hochschule ist Englisch, etwa jeder Dritte der 700 Studenten stammt aus dem Ausland. Gearbeitet wird in „Co-Working-Spaces“, Redner sind „Speaker“ und zum Kennenlernen von Unternehmern und Studenten werden „Speed datings“ veranstaltet.

Die HHL selbst nennt sich heute Graduate School of Management und versteht sich vor allem als Gründerschmiede junger Unternehmen. Ihre Absolventen haben bereits mehr als 280 Start-ups gegründet, darunter so namhafte wie das Hotel-Vergleichsportal Trivago, die Internet-T-Shirt-Drucker Spreadshirt, der Online-Optiker Mr. Spex, die Bestellplattform Delivery Hero und das E-Learning-Portal Lecturio. Ein zweijähriges Masterstudium kostet etwa 27 000 Euro, und viele Absolventen werden heute Online-Händler oder Unternehmensberater.

Zu DDR-Zeiten war die akademische Mission eine ganz andere: Es ging um die Ausbildung von Führungskräften für den DDR-weiten Binnenhandel mit seinerzeit 800 000 Beschäftigten, es ging um prekäre Versorgungsfragen und damit um höchste politische Priorität. 12 000 Absolventinnen und Absolventen entließ die Handelshochschule im Laufe von knapp 20 Jahren in die Berufspraxis. Im letzten Studienjahr lagen Listen mit offenen Stellen aus, für die man sich einschreiben konnte. „Nach dem Abschluss verdienten erst mal alle das Gleiche“, erinnert sich Professorin Günther: „775 Ostmark brutto, 595 netto.“

Eine der Frauen war die heutige Dresdnerin Christine Lang. Sie hatte Handelskauffrau mit Abitur gelernt, arbeitete im Versandhaus Leipzig, das Mode in der DDR verschickte. Danach ging sie mit einer Studienförderung des Betriebs an die Handelshochschule. 1973 kehrte sie mit Diplom in die Wirtschaftskontrolle zurück. 1979 zog mit ihrem Mann nach Dresden, arbeitete erst bei Robotron, später beim Werkzeugmaschinenkombinat Mikromat.

Ihre berufliche Ausbildung hat Christine Lang auch im vereinten Deutschland geholfen: Die heute 69-Jährige arbeitete nach der Wende erst in einer Steuerkanzlei und später bis zur Rente bei einem Catering-Anbieter.

„Wir waren, wenn man einmal von dem unvermeidlichen politisch-ideologischen Ballast absieht, betriebswirtschaftlich solide ausgebildet“, erinnert sich Wolfgang Topf, später IHK-Präsident in Leipzig und ebenfalls einer der ersten Absolventen.

In den 90er-Jahren, so Topf, sei es vielen Absolventen des 1973er Jahrgangs gelungen, im neuen Wirtschaftssystem im Osten oder in den westlichen Bundesländern Fuß zu fassen und Aufstiegschancen zu nutzen. Auch Dresdens winzigstes Café „Kunzmann’s“ in der Schlossstraße wurde von einem ehemaligen Absolventen geführt: Andreas Kunzmann.

Zum 50-jährigen Jubiläum macht die fröhliche Runde Gruppenfotos im Hörsaal 110, der heute „Lecture Theater“ heißt. Dann bricht man zum Mittagessen in der Mensa der Uni auf und besucht die neue Paulinerkirche am Augustusplatz. Am Abend aber geht es weiter: in Auerbachs Keller, 18 Uhr Abendessen. Wie immer.