zum Inhalt springen

brand eins Wissen 20.12.2016 Link: brandeins.de Download PDF

Die Aufholjagd

Den Boom der europäischen Biotech-Branche hätte Sachsen fast verschlafen. Doch als der Startschuss einmal gefallen war, gab es kein Halten mehr. Heute spielen Leipzig und Dresden in der Wissenschafts-Bundesliga, einige dynamische Gründer haben Weltniveau. Und die nächsten Laborversuche laufen schon.

Ödnis gähnt am Deutschen Platz in Leipzig. Grasbüschel kämpfen sich durch den Asphalt. Eine Bautafel, mit Politprominenz enthüllt, weist in ferne Zukunft: Hier baut der Freistaat Sachsen ein biotechnologisch-biomedizinisches Zentrum. So sieht es aus im Frühling 2000 im Nirgendwo zwischen Alter Messe, Innenstadt und Universität. Doch dann rollen die Bagger los.
Heute ist der Straßenzug vis-à-vis der Deutschen Nationalbibliothek einer der innovativsten Hotspots der Stadt. Hinter den modernen Fassaden der „Bio City“ mit Säulen, roten Klinkern und viel Glas arbeiten Biotechnologen an Hightech-Lösungen von morgen. Sämtliche Etagen sind ausgebucht mit Start-ups und Uni-Lehrstühlen. Im „Bio Cube“ um die Ecke residieren ausgewachsene Biotech-Unternehmen. Und nebenan ergründet ein Max-Planck-Institut die Geschichte der Menschheit anhand vergleichender Analysen von Genen und Kulturen. Ein Quantensprung binnen 15 Jahren. Was ist geschehen?

Im Frühsommer 2000 verplant die von Ministerpräsident Kurt Biedenkopf angeführte CDU-Landesregierung eine dreistellige Millionensumme. Jeweils 100 Millionen Euro werden für den Bau von neuen Bio-Innovationszentren in Leipzig und Dresden bereitgestellt. Zugleich sollen an jedem Standort sechs Lehrstühle mit 60 Personalstellen im Zukunftsbereich Biotechnologie entstehen. „Wir müssen auf den fahrenden Zug aufspringen, bevor er davonzieht“, sagt damals Minister Steffen Flath. Er hat die enormen Wachstumsprognosen der neuen Schlüsseltechnologie im Blick. Außerdem muss der junge östliche Freistaat weitere Standbeine aufbauen, neben der anrollenden Automobilindustrie und den Chip-Fabriken. „Nicht nur die Mikroelektronik“, sagt Flath, „auch die Biotechnologie soll in Zukunft ein Markenzeichen Sachsens sein.“
Die Kabinettsentscheidung wirkt wie ein Startschuss zur Aufholjagd Sachsens in der europäischen Biotech-Branche, die längst vorausgeeilt ist. „Wir hatten einen Rückstand zu anderen Regionen von 10 bis 15 Jahren“, erinnert sich André Hofmann, der Geschäftsführer des Branchen-Netzwerks „Biosaxony“. Der Coup gelingt: Der Freistaat hat sich in die Bundesliga der dynamischen Standorte für Biotechnologie hochgearbeitet, mit einer exzellenten Forschungslandschaft und Dutzenden innovativen Unternehmen. Heute zählt Sachsen mindestens 45 reine Biotech- Firmen mit durchschnittlich 20 bis 50 Mitarbeitern und 250 anverwandte Unternehmen. Die Zahl ihrer Beschäftigten ist laut Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) auf mehr als 2000 gewachsen. Darüber hinaus befassen sich rund 1500 Wissenschaftler in mehr als 30 Forschungseinrichtungen mit den Lebenswissenschaften und verknüpfen sich in diversen Netzwerken. „Die Biotechnologie“, sagt Dulig, „besitzt eine wichtige systemische Funktion für etliche andere Branchen und Technologien.“ Anders gesagt: Sie ist ein Mannschaftssport mit exzellenten Spielern.
Zu den Wachstumskernen gehören die Bio-Innovationszentren, die 2003 in Leipzig und 2004 in Dresden starteten. Durch die enge Verbindung von Lehrstühlen, verfügbaren Flächen und Laborkapazitäten auf insgesamt 35 000 Quadratmetern wirken sie wie Inkubatoren, in denen Life-Science-Start-ups laufen lernen und wachsen können. Die Gründerzentren bieten günstige Konditionen, Technologie und Service. Die Gründer profitieren von kurzen Wegen und engen Kontakten zwischen Forschern, Beratern und Dienstleistern. Sie bekommen Hilfe bei Anträgen, Finanzierungsfragen und Marketing. Zu den ersten Mietern zählen die Pflanzen-Fachleute von Bioplanta und die Nabelschnurblutbank Vita 34, der Blutspendedienst Haema und der Enzym-Entwickler c-LEcta (siehe folgende Seiten). Sie alle sind inzwischen kräftig gewachsen und in Neubauten in der Nachbarschaft umgezogen. Bis heute sind die Bio City in Leipzig und das BioInnovationsZentrumDresden (BioZ) voll ausgelastet. Inzwischen wird offen über Neubauten nachgedacht, um Raum für kommende Start-ups und Spin-offs zu schaffen.

Planen, begeistern und ansiedeln

Die Landesregierung bewältigte den Marathon nicht allein. Entscheidend waren Ansiedlungen großer Forschungsinstitute wie das Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie in Leipzig (IZI). Es wurde 2005 in der Bio City gegründet, eröffnete 2008 sein eigenes Institutsgebäude und beschäftigt heute mehr als 550 Mitarbeiter. Eine Schlüsselrolle für Sachsen spielt auch das Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden. Als das Institut nahe dem Universitätsklinikum Carl Gustav Carus 2002 eröffnet wird, zeigt sich schon an der Gästeliste seine Bedeutung: Anwesend sind Kanzler Gerhard Schröder, Ministerpräsident Biedenkopf und Max-Planck-Präsident Hubert Markl. Heute forschen am MPI-CBG 500 Menschen aus 50 Ländern an der Frage, wie sich Zellen zu Geweben organisieren.
Gründungsdirektor war der Finne Kai Simons, der Zellbiologe leitete das Haus bis zu seiner Emeritierung 2006. Ohne den agilen, mitreißenden, heute 78-jährigen Mann wäre die sächsische Erfolgsstory kaum denkbar. In den Achtzigerjahren rief er am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg ein Forschungsprogramm ins Leben, das sich zu einem Kern der molekularen Zellbiologie in Europa entwickeln sollte.
Ende der Neunzigerjahre wird Simons zum Max-Planck-Direktor berufen, rund 100 Wissenschaftler und Experten aus dem Raum Heidelberg ziehen mit ihm, um eine moderne Keimzelle für Biowissenschaften in Deutschlands östlichster Großstadt zu etablieren.
Damals ist Biotech in Dresden Neuland, und Simons macht den Sachsen Beine. Es nütze wenig, das MPI als Elfenbeinturm in biotechnologisches Niemandsland zu setzen, macht er ihnen klar. Weitere Partner und Ansiedlungen müssten her: Forschungsinstitute, Gründungsschmieden und Firmen, die Brücken bauten und ein Umfeld für den Aufschwung schafften. Die Politik zog mit. „Biedenkopf und die Minister Kajo Schommer und Hans Joachim Meyer wussten: Das ist die Zukunft“, erinnert sich Simons. Ein wenig mehr von diesem Gründungselan könnte heute nicht schaden, findet er. „Die Forschung ist da. Aber wir brauchen einen stärkeren Technologietransfer, um noch mehr Ergebnisse in Produkte, Industrien und Arbeitsplätze umzusetzen.“ Nötig wären noch mehr Strukturen für weiteres Wachstum und Ansiedlungen. Was daraus dann werden kann, macht der quirlige Forscher gleich vor – mit seiner Firma Lipotype, die er 2012 gegründet hat (siehe Seite 13).
Kai Simons ist nicht der Einzige, der in Sachsens Aufbruchjahren für Bewegung sorgt. Da ist auch der preisgekrönte Münsteraner Zellforscher Wolfgang Göhde. Zur Jahrtausendwende baut er in seiner Geburtsstadt Görlitz einen Schwesterbetrieb seiner Diagnostikfirma Partec auf. Der Standort wächst dank seiner besonderen Produkte: Die simplen, robusten und schuhkartonkleinen Diagnoselabors für HIV, Malaria oder Tuberkulose werden in Schwellenländern dringend gebraucht. 2013 kauft der japanische Konzern Sysmex das Familienunternehmen. Göhde und sein Sohn Roland mischen derweil eifrig in Sachsens Biotech- Netzwerken mit, zeitweise auch im Vorstand des Branchenverbandes.
Auch der lebhafte Unternehmer Wilhelm Zörgiebel zählte Anfang der Neunzigerjahre zu den Biotech-Pionieren. Nicht lange nachdem Kanzler Helmut Kohl im Dezember 1989 vor der Ruine der Frauenkirche eine historische Rede hält, kündigt Zörgiebel seinen gut dotierten, aussichtsreichen Job in München, packt seine Koffer und bricht mit Frau und Kindern nach Dresden auf. Schon bald beginnt der mutige Macher, die Deutschen Werkstätten Hellerau zu sanieren und das historische Gebäudeensemble zum Teil in ein Innovationszentrum für Biotechnologie zu verwandeln. Zörgiebel steht nie still und engagiert sich stets auch für die Entwicklung seines Standortes.
In Dresden entstehen derweil immer neue Forschungsinstitutionen, die bald internationales Spitzenniveau erreichen: Das Max Bergmann Zentrum für Biomaterialien etwa bringt seit 2002 Forscher von Werkstoffwissenschaft und Bioengineering zusammen. Am 2006 gegründeten Zentrum für Regenerative Therapien (CRTD) der TU Dresden, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Exzellenzinitiative, ergründen fast 300 Grundlagenforscher und Mediziner Selbstheilungsprozesse und regenerative Therapien für bisher unheilbare Krankheiten.
Und das renommierte Zentrum für Medizinische Strahlenforschung in der Onkologie, kurz: OncoRay, optimiert seit 2005 Strahlentherapien gegen Krebs. Nicht von ungefähr genießt die TU Dresden heute den Status einer Exzellenz-Universität. Und auch die Wirtschaft profitiert: Aus der Forschung entstehen Start-ups wie die Zellmechanik Dresden. Das fünfköpfige Gründerteam – 2015 als Spin-off gestartet – entwickelt und produziert ein Forschungsgerät, das binnen Minuten die mechanischen Eigenschaften von Zellen bestimmen und krankhafte Deformationen erkennen kann.

Finanzieren, motivieren und halten

Das Einzige, was Sachsen bis heute weitgehend fehlt, sind biotechnologische Großunternehmen. Zu den seltenen Ausnahmen zählt der Konzern GlaxoSmithKline, der in Dresden mit mehr als 700 Mitarbeitern Grippe-Impfstoffe für den Weltmarkt herstellt. Die B. Braun Melsungen AG produziert mit ebenfalls mehr als 700 Mitarbeitern in Radeberg und Berggießhübel Dialysatoren für die Blutwäsche, bis 2018 soll ein neues Werk in Wilsdruff gebaut werden. Aber weitere Ansiedlungen großer Pharmafirmen wären wichtig.
André Hofmann, 39, gebürtiger Sachse und Diplomingenieur für Biotechnologie, kennt jeden namhaften Akteur in der Biotech- Branche seiner Heimat. Das muss er auch als Geschäftsführer von Biosaxony, jenem Verein, der sich um den Informationsaustausch und mögliche Synergien kümmert. Dem Netzwerk gehören heute fast 120 Mitglieder aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung an. Kürzlich hat der Verein den „Life-Sciences- Atlas Sachsen“ herausgebracht, ein Internetportal, das sie alle vorstellt.

Hofmann kennt Licht und Schatten der Branche, er spricht auch über die Aufgaben der Zukunft. Nummer eins: In Sachsen fehlen noch Risikokapitalgeber, die eine Gründung oder einen Wachstumsschub junger Unternehmen begleiten. Ist ein Start-up erfolgreich und bereit zu wachsen, droht die Gefahr, dass es mit seinem Know-how abwandert und dem Geld großer Investoren in andere Regionen folgen muss. „Wir bräuchten mehr Geld im System, um einen Start in den Markt zu begleiten und Abwanderungen in andere Regionen zu verhindern“, sagt Hofmann.
Nummer zwei: Sachsens herausragende Wissenschaftslandschaft ist ein beliebtes Biotop, in dem Forscher gern arbeiten – und deshalb meist lange bleiben wollen. „Wir würden uns jedoch wünschen, dass noch mehr Wissenschaftler den Sprung ins eigene Unternehmen wagen“, sagt Hofmann. Seine gegenwärtige Bilanz dürfte Mut machen: „Wir haben zwar noch nicht den Stand von großen Playern wie München oder Heidelberg erreicht, aber in relativ kurzer Zeit einen riesigen Sprung gemacht.“ Nun seien neue Wachstumsstrategien nötig: „Wir können uns nicht auf den Erfolgen ausruhen“, findet André Hofmann.
Es ist Zeit für die nächsten Bautafeln in Biosaxony.

Das biologische Quartett – Vier Beispiele für den Stand sächsischer Biotechnologie.

I. Enzyme zum Frühstück

Mit seiner Firma c-LEcta entwickelt Marc Struhalla maßgeschneiderte Zutaten für einen gesünderen Alltag.

Gut, dass die Numerus-clausus-Latte für Biochemie so hoch hängt, als Marc Struhalla 1994 einen Studienplatz sucht. Trotz Einser-Noten kommt der Abiturient aus der Nähe von Osnabrück damals nur im entfernten Leipzig unter. Heute, einige Weichenstellungen später, leitet der 41-Jährige in seiner Universitätsstadt eines der Flaggschiffe der sächsischen Biotechnologie: c-LEcta kreiert maßgeschneiderte Enzyme und Mikroorganismen für Lebensmittel, Waschmittel und Medikamente. Die biologischen Stoffe können etwa das Acrylamid in Chips, Cornflakes und Kaffee, das potenziell das Krebsrisiko erhöht, blockieren oder dabei helfen, Grasflecken aus Jeans zu waschen. Sie sind sogar imstande, Orangenreste wie Grapefruit schmecken zu lassen. Die Kunden der Leipziger Firma heißen Henkel, BASF oder Evonik, sie sitzen in ganz Europa und in den USA. Die ersten Produkte mit c-LEcta-Inhalt stehen bereits in den Läden. „Ich hoffe“, sagt Struhalla, „dass in einigen Jahren in vielen Alltagsdingen c-LEcta steckt.“

Struhallas Firma unterstützt ihre Kunden von der Ideenfindung bis zur Patentierung und Marktreife. Aktuell arbeitet sein Team mit einer dänischen Nestlé-Tochter an der Verbesserung von Milchersatzprodukten für Säuglinge. Sie sollen künftig ähnliche Schutzfunktionen haben wie Muttermilch. Für die Herstellung dieser nützlichen Spezialzucker hat c-LEcta biotechnologische Wege gefunden. „Wir kümmern uns darum, wie aus günstigen, nachwachsenden Rohstoffen neue, hochwertige Produkte werden können“, sagt Struhalla. „Die Natur erzeugt nur Enzyme, die sie benötigt. Aber der Mensch kann sie für seine Zwecke abwandeln.“ Dazu wird der DNA-Code der Ausgangsstoffe so lange verändert, bis das Enzym die gewünschten Eigenschaften aufweist. Ausgangspunkt für die Neuentwicklungen ist eine hauseigene Sammlung von Tausenden Mikroorganismen, deren Eigenschaften c-LEcta bereits identifiziert hat.

Den Absprung in die Selbstständigkeit wagt Marc Struhalla kurz nach der Promotion 2004, er ist damals wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Biochemie. „Wir hatten eine Screening- Technologie patentiert, um mit sehr hohem Durchsatz die Eigenschaften von Enzymen zu analysieren.“ Auf dieser Basis ein Unternehmen aufzubauen reizt ihn mehr als die akademische Laufbahn – der Nachwuchs-Forscher zieht mit seinem Spin-off in die Bio City. Die ersten Jahre sind hart, die Eltern müssen ihm Geld leihen. Doch dann akquiriert der Jungunternehmer sechsstellige Summen aus Gründerfonds und Beteiligungsgesellschaften. Endlich nimmt sein Start-up Fahrt auf. Aus den Gründungsbüros in der Bio City zieht c-LEcta 2013 in einen benachbarten Neubau und beschäftigt dort inzwischen mehr als 50 Mitarbeiter. Seit 2014 ist das Unternehmen profitabel, der Umsatz liegt bei vier Millionen Euro.

Als Firmengründer hat sich Marc Struhalla noch einmal bewusst für Leipzig entschieden. Eine gute Wahl, wie er findet: „Die Leute hier ziehen an einem Strang, sie wollen den Standort wirklich nach vorne bringen.“

II. Die Blutbank der Babys

Vita 34 ist unter dem reiselustigen Chef André Gerth zur größten privaten Nabelschnurblutbank in Deutschland gewachsen.

Eigentlich wollte André Gerth als junger Mann in der DDR Journalist werden – um reisen zu können. Das redete ihm der Vater aus. Gerth sieht heute dennoch viel von der Welt – als Vorstandsvorsitzender der Leipziger Nabelschnurblutbank Vita 34. Das börsennotierte Unternehmen hat Tochterfirmen und Partner in mehr als 20 Ländern in Europa und weltweit. Es bietet Eltern die Chance, Blut und Gewebe der Nabelschnur ihrer Neugeborenen bei minus 190 Grad in einer Kältestarre einzulagern. Mit diesen Depots lassen sich später medizinische Präparate herstellen, die bei bestimmten schweren Krankheiten helfen können. Aus Stammzellen lassen sich neue Blutzellen und Organgewebe entwickeln. Bei 30 Behandlungen von Blut- und Krebserkrankungen, kindlichen Hirnschäden und Diabetes Typ 1 kamen schon Vita-34-Depots zum Einsatz.

Das Unternehmen ist mittlerweile die größte private Nabelschnurblutbank für die medizinische Versorgung mit Stammzellen im deutschsprachigen Raum. Mehr als 2000 Geburtskliniken in Europa sind an das System angeschlossen. Entsprechend geschult, können sie nach einer Entbindung die Präparate direkt nach Leipzig liefern. In den mit Stickstoff gekühlten Edelstahltanks in der Konzernzentrale lagern heute Blut und Gewebe von 145 000 Babys. Etwa 5000 Stammzellen-Depots sind nicht nur für das jeweils eigene Kind angelegt, sondern – sofern medizinisch geeignet – von den Familien für Spenden freigegeben. Öffentliche, kostenlose Nabelschnurblutbanken bieten nur einen Bruchteil dieses Angebots.

Hinter André Gerth liegt ein weiter Weg: Um sein Fernweh auch ohne Journalismus stillen zu können, studiert und promoviert er am Institut für Tropische Landwirtschaft in Leipzig. 1991 startet der damals 28-jährige Agraringenieur zunächst sein Unternehmen Bioplanta und baut eine pflanzliche Stammzell-Datenbank auf. Bioplanta konserviert Gewebe – besonders von Arzneipflanzen – mittels Kälteschlaf und stellt Wirkstoffe für die Forschung und die pharmazeutische Industrie bereit. Gerths Bioreaktor-Technologie zur Produktion von Pflanzenstammzellen ist preisgekrönt.

Zur selben Zeit gründet 1997 der Immunologe Eberhard Lampeter Vita 34. Beide Unternehmen ziehen 2003 als erste Mieter in die Bio City, 2012 werden sie zusammengelegt. Lampeter scheidet aus, Gerth wird Vorstandschef und wechselt mit Vita 34 in den benachbarten Bio Cube. Heute beschäftigt das Unternehmen rund 150 Mitarbeiter in Europa, davon 100 in Leipzig, und entwickelt sich ständig weiter. So sucht Vita 34 nach zusätzlichen Quellen zur Gewinnung von Stammzellen, etwa aus Zähnen, Haaren oder Fettgewebe. Außerdem will man neue therapeutische Anwendungen erschlieІen – etwa 1,5 Millionen Euro fließen jährlich in die Forschung. „Zehn Mitarbeiter sind nur damit beschäftigt“, sagt André Gerth nicht ohne Stolz. Erst kürzlich wurde Vita 34 als Top-Innovator des Mittelstands ausgezeichnet.

III. Fette wie Flösse

Lipotype, das Unternehmen des ehemaligen Max-Planck-Direktors Kai Simons, spürt Fette in unserem Blut auf.

Sein ganzes Forscherleben hat sich Kai Simons mit Zellen und ihren Membranen beschäftigt. Er war schon Mitte 70, als er, einst Direktor des Dresdner Max-Planck-Instituts für Molekulare Zellbiologie und Genetik, sein Know-how in eine Firma münden ließ: Lipotype. Das Dresdner Unternehmen ging 2014 an den Start, beschäftigt heute elf Mitarbeiter und ist gut im Geschäft.

Lipotype bietet Analysen von Lipiden im Blut und anderen biologischen Proben. Eigentlich kein Wunderwerk. Doch die Dresdner können Fette aus Tausenden von Proben fünf- bis zehnmal schneller, umfassender und genauer bestimmen als herkömmliche Verfahren. „Unsere Technologie ist weltweit führend“, sagt Prokurist Oliver Uecke. Eine durchschnittliche Analyse dauere nur noch fünf statt sonst 30 Minuten. Bei langwierigen Forschungsprojekten könne die Zeitersparnis für Kunden mehrere Monate betragen. Der 35-jährige Uecke weiß, wovon er redet: Vor seiner Zeit bei Lipotype hat er über Entrepreneurship in der Biotechnologie promoviert und an der TU Dresden Start-ups begleitet. Dort lernte er auch Kai Simons kennen.

Gebraucht werden Lipotypes Messtechnik und die hauseigene Software zur Analyse von Daten in der Lebensmittelindustrie, in der Medizin, Pharmazie und Biotechnologie, auch die Kosmetikbranche zeigt sich interessiert. Schon jetzt hat das Unternehmen mehr als 50 Kunden. Dazu gehören Universitäten wie die renommierte Yale University in New Haven (Connecticut), klinische Forschungseinrichtungen wie die Berliner Charité sowie große Unternehmen, etwa der Lebensmittel-Technikkonzern Evolva. Auch mit dem Nestlé Institute of Health Sciences gibt es inzwischen eine Kooperation.

Entstanden ist die Firmenidee 2011. Als ein Forscher aus der Lebensmittelindustrie Simons in seinem Institut besucht, spricht man unvermittelt über Chancen zur Entwicklung gesünderer Nahrungsmittel. Simons reagiert schnell: Von 2012 an baut er die Firma als Spin-off des Max-Planck-Instituts auf, beschafft Probenroboter und Massenspektrometrie-Geräte. Die stehen heute in den Laborräumen der Firma im Dresdner BioInnovationsZentrum. Dort bietet Lipotype seine Dienste und Lizenzen für die Technologie an und entwickelt neue Verfahren weiter. Auch eine zweite Firma ist geplant. Sie soll gesundheitsbewussten Menschen ermöglichen, private Proben einzuschicken, um mehr über die Fette in ihrem Blutbild zu erfahren.

Simons Spezialgebiet war schon immer die Zellmembran: Jene Hülle, welche die menschlichen Zellen umschließt und aus Fettmolekülen besteht – den Lipiden. Deren Formen erinnern den Finnen an Flöße aus Baumstämmen, die übers Wasser treiben. Kai Simons nannte sie deshalb Lipid Rafts: Fett-Flöße. Es gehört zu seiner Art von Humor, dass sich Lipotype auf Messen und Kongressen bildhaft präsentiert: mit einem aufblasbaren Kanu.

IV. Gespür für gute Geschäfte

Der agile Unternehmer Wilhelm Zörgiebel bringt reihenweise innovative Biotech-Firmen zum Laufen.

Als Wilhelm Zörgiebel 1990 aus München nach Dresden zieht, hat er wenig Ahnung von Biotechnologie – aber ein gutes Gespür für neue Themen. Der Wirtschaftsingenieur, der an der TH Darmstadt studiert und an der Harvard Business School über Innovationsmanagement promoviert hat, unterstützt nach der Wende große DDR-Kombinate bei der Privatisierung. 1992 schlägt er selbst zu und kauft mit zwei Partnern die historische Möbelmanufaktur Deutsche Werkstätten Hellerau. Es ist der Grundstein für eine Erfolgsstory – heute floriert die Möbelproduktion, das Gebäudeensemble ist saniert und ein Ort der Innovation geworden. Zörgiebel, mittlerweile 63 Jahre alt, hat in zwei Jahrzehnten ein kleines, feines Imperium von Biotech-Firmen aufgebaut: die Molecular Diagnostics Group mit 150 Mitarbeitern und 20 Millionen Jahresumsatz.

Mitte der Neunzigerjahre gründet der Neu-Dresdner mit dem umtriebigen Mikrobiologen Jörg Gabert zunächst die Labor Diagnostik GmbH Leipzig (LDL), ein Servicelabor für Tiermedizin. Man entwickelt schnelle Testsysteme für die Fleischverarbeitung, es geht um Salmonellen bei Schweinen und um BSE. Die LDL wird zu einem führenden Diagnostikanbieter – und gehört seit 2011 als veterinärmedizinisches Kompetenzzentrum zum Biotech-Konzern Qiagen.

1998 entdeckt Zörgiebel bei einer Israel-Reise mit dem Wirtschaftsministerium Start-ups, die mit Gentests hantieren. In dieses Wachstumsfeld will er auch und gründet mit seinem Kompagnon Gabert 1999 die nächste Firma, den DNA-Spezialisten Biotype. „Die Forensik war ein spannendes Feld“, sagt Zörgiebel heute. „Die Kriminalämter begannen, Täterdatenbanken aufzubauen, und wollten ein eigenes, deutsches Diagnostiksystem, keines aus den USA.“ Biotype wird ein weiterer Erfolg und geht 2009 eine Liaison mit Qiagen ein.

Als Nachfolgerin entsteht die Neugründung Biotype Diagnostic, sie überträgt die Gentechnik-Kenntnisse auf die Medizin. Das Unternehmen entwickelt Testsysteme für eine personalisierte Diagnostik, darunter ein Verfahren, das den Erfolg von Knochenmarktransplantationen überwacht. Und die Firmengruppe wächst weiter, 2014 kommt Rotop Pharmaka hinzu, am Forschungszentrum Rossendorf auf nuklearmedizinische Diagnostik spezialisiert. 2015 startet Biotype Diagnostic mit Qiagen die Biotype Innovation. Das Joint Venture entwickelt neue Testverfahren, beispielsweise für die Molekulardiagnostik zur Krebserkennung.

Zörgiebel, der schon Anfang des Jahrtausends die Firma Qualitype als Software-Dienstleister für biotechnologische Anwendungen gegründet hatte, ist ein unruhiger Geist geblieben. Die Entwicklung in Sachsen geht ihm manchmal zu langsam. „Wir sind ein Standort mit exzellenten Spielern und internationaler Wahrnehmung“, sagt er. „Aber ich wünschte mir mehr Flächen und Fonds für Gründer und eine aktive Führungsfigur, so etwas wie einen Innovationsmanager.“ Für die Rolle wäre Wilhelm Zörgiebel wohl auch selbst sehr qualifiziert.