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Öko-Test Magazin 04/2021

Atomkraft? Nein, danke!

35 Jahre nach der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl kämpft die Anti-Atom-Bewegung um die besten Ausstiegsszenarien für Deutschland. Ein Comeback der Kernkraft können sich Aktivisten wie Wolfgang Ehmke aus dem Wendland nicht vorstellen.

In der Nacht zum 26. April 1986 läuft ein Sicherheitscheck in der Ukraine völlig aus dem Ruder. Eigentlich wollen die Techniker und Ingenieure im Atomkraftwerk Tschernobyl nur einen Stromausfall simulieren und testen, ob die Notsysteme funktionieren. Doch sie funktionieren nicht. Im Vorzeigereaktor kommt es zur Kernschmelze, der Block IV explodiert, das Dach des Gebäudes wird aufgerissen. Eine radioaktive Wolke zieht lautlos gen Westen über weite Teile Europas. Tschernobyl liegt nicht mal 1200 Kilometer östlich von Berlin entfernt. Schon nach anderthalb Tagen melden erste Messstationen in Skandinavien und Deutschland alarmierend hohe Strahlenwerte. Große Unsicherheit bricht aus, welches Gemüse oder Obst man noch essen kann und ob Kinder draußen spielen dürfen.

Der Super-Gau von Tschernobyl hat sich in das kollektive Gedächtnis Europas eingebrannt und ist auch heute, 35 Jahre später, noch immer aktuell – auch wenn Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 das Ende der Atomrepublik einläutete. Noch sind in Deutschland sechs AKWs am Netz, drei müssen per Gesetz dieses Jahr abgeschaltet werden, die letzten drei Kraftwerke spätestens 2022. Doch die Atommüllentsorgung ist bis heute nicht geklärt – und die Anti-Atom-Bewegung nach wie vor aktiv. Manche Ikonen der Protestbewegung vergangener Jahrzehnte engagieren sich nach wie vor. Wolfgang Ehmke zum Beispiel, der nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zum Sprecher der legendären Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg im Wendland wurde – der Herzkammer der Anti-Atom-Bewegung. Ein Landstrich im östlichen Niedersachsen, wo große gelbe X-Symbole in den Vorgärten stehen und das alte Greenpeace-Boot „Beluga“ als Mahnmal gegen ein Endlager vor Anker ging.

Ehmke, Deutsch-Lehrer und Jahrgang 1947, ist im April 1986 schon seit Jahren Aktivist. Nach dem größten anzunehmenden Unfall lässt er sich von seinen Mitstreitern zum Sprecher der BI überreden, die er mitgegründet hat. Er ist eine Instanz der Anti-AKW-Bewegung, und er kann sich noch genau an die Tage Ende April 1986 erinnern. „Es herrschte brillantes Wetter, aber wir mussten die Kinder ins Haus holen“, erzählt der heute 73-jährige am Telefon. „Statt frischer Milch stand Molkepulver auf dem Tisch und bei Regen ging man nicht raus.“

Die alte Geschichte ist bis heute nicht vorbei. Dieser Tage mischt Ehmke sich ein bei der bundesweiten Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfälle. Bis 2031 soll ein geeigneter Standort gefunden werden. Ende September hat die Bundesgesellschaft für Endlagerung einen ersten Zwischenbericht vorgelegt. Das Papier weist bundesweit 90 Regionen aus, deren geologische Formationen näher untersucht werden wollen. Der Salzstock in Gorleben ist nicht mehr dabei, nicht zuletzt wegen des wasserdurchlässigen Deckgebirges über dem Salzstock. Und Ehmke ist spürbar stolz auf den Etappensieg. Seine Arbeit habe maßgeblich dazu beigetragen, sagt er, „dass Gorleben aus der Liste rausgeflogen ist“. Sicher sei das Votum aber nicht. Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe versuche, die Entscheidung zu diskreditieren. „Es wird der Versuch unternommen, Gorleben durch die Hintertür ins Spiel zurückzuholen“, sagt Ehmke. „Der Drops ist noch nicht gelutscht.“ Ohnehin bleibe Gorleben Atommüllstandort – mit einem Zwischenlager für ausgediente Brennelemente, in dem 113 Castor-Behälter stehen, und einem zweiten Lager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle aus AKWs, der Forschung und der Industrie. Eine fertig gebaute Pilot-Konditionierungsanlage für Brennelemente ging indessen nie in Betrieb.

Mittlerweile haben Bundestag und Bundesrat ein „Nationales Begleitgremium“ berufen. Auf Konferenzen sollen Bürger, Experten und Verantwortliche diskutieren können – Corona-konform allerdings nur online. Ehmke hat deshalb eine Verschiebung durchgesetzt. „Ein rein digitales Format ist nicht geeignet, zu intervenieren, Stimmen und Stimmungen aufzugreifen“, sagt er. „Es ist eine Schweigekonferenz.“ Die Kommunikation werde mit Hilfe eines Moderationsteams gesteuert – und das Partizipationsversprechen nicht eingelöst.

Dass es überhaupt zum Neustart der Endlagersuche und den Gesprächen kam, ist auch ein Erfolg des Wendlands. „Das Kalkül der Politik nach Fukushima, uns den Saft abzudrehen, ist nicht aufgegangen“, sagt Ehmke. „Wir haben es immer wieder geschafft, dass Widerstandsfeuer zu entfachen.“ Besonders 2020 haben sich die tapferen Gallier engagiert, weil das Standortauswahlgesetz die große Chance bot, dass Gorleben endlich aus dem Visier gerät. Mit Erfolg. Die Bürgerinitiative hört damit aber nicht auf. „Wir mischen uns weiter ein“, sagt Ehmke. Das gebiete schon der Respekt vor der bundesweiten Solidarität, die Gorleben vier Jahrzehnte lang erfahren habe. „Jetzt bieten wir unsere Hilfe und Expertise den Regionen an, die noch als Endlager-Standort infrage kommen.“ Parallel halten die Aktivisten Kontakt nach Lingen und Gronau, wo weiterhin Uran angereichert und verarbeitet wird. Die Szene bleibt bundesweit vernetzt, vor allem in der Atommüllkonferenz mit rund 30 Vereinen und Initiativen an Atom-Standorten. Man organisiert zwei Tagungen im Jahr und trifft sich zurzeit alle zwei Wochen virtuell. Ehmke: „Es gibt sie noch, die Anti-Atom-Bewegung.“

Allein die BI Lüchow-Dannenberg zählt zurzeit 1111 Mitglieder, die meisten von ihnen aus der älteren Generation. „Man merkt, dass die über 50-Jährigen intensiv mit dem Thema Atomkraft belastet waren“, sagt Ehmke. „Während die Jüngeren für andere Themen brennen wie den Klimaschutz.“ Bei Fridays-for-Future im Wendland gingen Hunderte und Tausende junge Leute demonstrieren, weil sie mit dem Gorleben-Widerstand groß geworden sind. Nun diskutieren die alten Anti-AKW-Aktivisten, wie sie die junge Bewegung unterstützen können. Das Ziel ihres Protests sei heute nicht mehr, ein Endlager um jeden Preis zu verhindern. „Strikte Verweigerungshaltung funktioniert nicht mehr“, sagt Ehmke. „Sie galt so lange, wie das Atomprogramm lief. Aber seit dem Ausstiegsbeschluss muss es gelingen, den bestmöglichen Standort zu finden.“ Wie die Lösung aber aussehen soll, vermögen auch die Aktivisten nicht zu sagen. „Wenn Institutionen und Wissenschaftler die Frage nicht klar beantworten können, können wir es auch nicht“, sagt Ehmke. „Unsere Aufgabe ist es, auf offene Fragen hinzuweisen, auf den Forschungsbedarf und die Expertise der Zivilgesellschaft.“

Nur eine Renaissance der Atomkraft durch modulare Kleinreaktoren, die bereits in den USA, Russland und China entstehen und von einem Ausschuss der CDU protegiert werden, kann sich im Wendland kaum jemand vorstellen: „Wenn es einen Wiedereinstieg gäbe, würden alle jetzt gültigen Spielregeln zerschlagen“, sagt Ehmke. „Dann würde aus unserer konstruktiven Kritik sofort Fundamentalopposition.“ Doch an ein solches Rollback glaubt er nicht: „Ich sehe in Deutschland keine politische Mehrheit, die es wagen würden, das Atom-Fass wieder aufzumachen.“